Mit Glanz und Gloria: Alisa Weilerstein und Alan Gilbert spielen Tschaikowskys Cello-Variationen und Beethovens Eroica

Alisa Weilerstein, Alan Gilbert, NDR Elbphilharmonie Orchester,  Elbphilharmonie Hamburg, 27. September 2020

Alisa Weilerstein. Foto: © Decca / Harald Hoffmann

Elbphilharmonie Hamburg, 27. September 2020

Alisa Weilerstein, Violoncello

NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent: Alan Gilbert

Piotr I. Tschaikowsky:
Variationen über ein Rokoko-Thema A-Dur op. 33 für Violoncello und Orchester

Ludwig van Beethoven:
Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 „Eroica“

von Dr. Holger Voigt

Es erscheint etwas schwierig, Tschaikowskys am 30. November 1877 in Moskau uraufgeführte Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester im Zusammenhang mit seinem Musikschaffen zu verorten. Sollte diese nur knapp 20 Minuten umfassende Komposition ein eigenständiges Cellokonzert sein oder erst werden, in welchem Virtuosität und Ausdruck um die Wette eifern? Ein angedachtes Cello-Konzert, das dann später nie zustande kam? Oder handelt es sich um eine freundschaftliche Reverenz an den seinerzeitigen Cello-Virtuosen Wilhelm Fitzenhagen, der an der Komposition beteiligt war und die Uraufführung spielte? Fitzenhagen, der – wie sich herausstellte – die Komposition zum Ärger Tschaikowskys ausgiebig und höchst eigenwillig bearbeitete und eine eigene Reihung der verschiedenen Variationen erstellte – vielleicht auch in der wachsenden Annahme, die Komposition sei seine eigene? Vielleicht trugen all diese persönlichen Dissonanzen dazu bei, dass das höchstschwierige Werk heute nur relativ selten gespielt wird.

Die technischen Anforderungen an einen Solisten oder eine Solistin sind bei diesem Werk ungemein hoch, zumal es nicht nur auf technische Brillianz, sondern auch auf instrumentale Expressivität ankommt. Nur im Eröffnungsteil, der orchestral gestützt wird, wird das kleine, feine, nur wenige Töne umfassende Ausgangsthema eingeführt. Anschließend ist das Orchester fortwährend Resonanzraum für das Soloinstrument. Die insgesamt acht Variationen sind mit römischen Ziffern aneinandergereiht bezeichnet: Var. I: Tempo della Thema, Var. II: Tempo della Thema, Var. III: Andante, Var. IV: Allegro vivo, Var. V: Andante grazioso, Var. VI: Andante, Var. VII: Andante sostenuto, Var. VIII e Coda: Allegro moderato con anima.

Die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete, 1982 in Rochester, New York, geborene US-amerikanische Cellistin Alisa Weilerstein ist besonders durch ihre Einspielungen der Werke Edward Elgars, Dmitri Schostakowitschs und Antonín Dvořáks hervorgetreten. Ihre Spieltechnik wird als virtuos brilliant bezeichnet und hat dazu geführt, dass sie schon in jungen Jahren mit den bedeutendsten Orchestern und Dirigenten aufgetreten ist. Ihr Weg führte sie nun auch in die Elbphilharmonie Hamburg, die Pandemie-bedingt gerade erst wieder begonnen hat, ein reguläres Konzertprogramm auf die Beine zu stellen.

Alisa Weilerstein. Foto: © Decca / Harald Hoffmann

Die Akustik des großen Konzertsaales ist derart transparent, dass die dargebotenen Cello-Variationen Tschaikowskys in geradezu molekularer Feinheit erklingen konnten. Bei perfekter Technik gelang der Solistin eine wechselvolle musikalische Wanderung durch alle, zumeist sehr kurzen, Variationen und die dazugehörigen emotionalen Ausdrucksräume. Wer allerdings dieses Werk bereits von anderen Solisten, z.B. Mischa Maisky, gehört haben mag, wird möglicherweise den Eindruck gewonnen haben, dass die musikalische Empathie hinter dem technischen Glanz des Vortrages zurückstand. Dieses zeigte sich besonders in den letzten beiden Variationen (Schlussteil der vorletzten), wobei die abschließende achte an Furiosität und technischer Virtuosität nichts zu wünschen übrig ließ.

Verhalten einsetzender, dann aber großer, herzlicher Beifall des Publikums, das sich mit diesem Werk erkennbar noch etwas schwer tat.

Die dritte Sinfonie Ludwig van Beethovens, die „Eroica“, ist noch heute stets aufs Neue ein Statement. „Ich bin es, ich bin jetzt hier, und ab jetzt wird alles anders“, könnte der Komponist kommentiert haben, so ungewöhnlich und Proportionen-sprengend erschien dem Publikum das Werk bei seiner ersten öffentlichen Aufführung im Jahr 1805 im Theater an der Wien. Ein neuer musikalischer Geist war geboren: unabhängig, frei, kühn und kompromisslos.

Mit 34 Jahren hatte Beethoven bereits seine Lebensmitte überschritten – er hatte nur wenig mehr als 20 weitere Jahre zu leben. Ein revolutionärer „Jungspund“, wie er von vielen gesehen wird, konnte er also schon gar nicht mehr gewesen sein. Zudem lag die Französische Revolution bereits mehr als 15 Jahre zurück.

Gleichwohl konnte er sich zeitlebens für die Ideale der Zeitenwende begeistern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im humanistischen Geist der Aufklärung. Lange Zeit hatte er den aus dem Nichts kommenden korsischen Consul Napoleon Bonaparte insgeheim bewundert und seine Begeisterung auf ihn projiziert. Er wurde bitter enttäuscht, als Napoleon sich zum Kaiser proklamieren und krönen ließ. Beethoven reagierte auf diese Nachricht mit einem Wutanfall und zerriss das Deckblatt der Partitur, auf dem er bereits „intitulata Bonaparte“ geschrieben hatte, dieses aber nun durch heftigstes Radieren auslöschte. Ob er die Sinfonie tatsächlich Napoleon widmen wollte, ist fraglich, denn mit Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz gab es bereits einen Widmungsträger. Es war also lediglich eine Betitelung gewesen, nicht eine Widmung. Und als Titel fand sich umgehend Ersatz: „Eroica“ hieß sie fortan.

© Maxim Schulz

Musikalisch ist die 3. Sinfonie alles andere als eine Huldigungssinfonie für Napoleon Bonaparte. Es ist auch nicht so, dass in ihr der Werdegang Napoleons musikalisch abgebildet wird. Beethoven knüpfte seine Begeisterungen stets an Ideen und Ideale, nicht an spezielle Personen und Menschen der Zeitgeschichte. Alles Musikalische steht bei ihm für eine Idee, ein Gefühl, eine Vision.

Das „Heldische“ in der „Eroica“ entwickelt sich allmählich nach einem mühevollen, mehrsätzigen Prozess, der dazu führt, persönliche Bedrängnisse und tiefste Trauer durch die humanistische Heilkraft einer charakterlichen Entwicklung in Triumph zu wandeln, der dem Menschsein Vorbild und Erfüllung ist. Wer Beethoven kennt, wird dabei weniger an Napoleon, sondern vielmehr an die Überwindung seines eigenen Leids durch die immer deutlicher zu Tage tretende Gehörsminderung denken. Sinfonisch hat er sich dabei sozusagen seinen eigenen Weg gewiesen.

Der riesige Kopfsatz (Allegro con brio) der Sinfonie dauert allein schon fast so lange, wie die vorangehend dargebotenen Cello-Variationen Tschaikowskys. Harte Eingangsschläge eröffnen ein völlig neuartiges sinfonisches Szenario. Das fließende, streichgetragene Grundmotiv selbst ist und bleibt dabei völlig unverfänglich, gleichwohl von an- und abschwellender Dynamik. Immer wieder wird es von harten Orchesterschlägen unterbrochen – es scheint so, als wolle Beethoven die Zuhörer aus ihrer passiven auditiven Lethargie wachrütteln. Manch einer hat dieses als Schlachtenlärm aufgefasst, unterbrochen durch Haubitzensalven – jeweils sechs an der Zahl. Doch dieses wäre einem Beethoven sicher viel zu profan und plakativ vorgekommen. Auch das grundsätzlich freundliche, nicht annähernd kriegerische Grundthema des fließenden Streichermotivs spricht gegen ein martialisch unterfüttertes Klangbild. Beethoven ging es um mehr.

Alan Gilbert. Foto: (c) Peter Hundert

Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung seines Chefdirigenten Alan Gilbert – posaunenfrei und doppelbesetzt bei vier Hörnern – ließ im großen Saal der Elbphilharmonie einen glanzvollen Orchesterklang aufsteigen, der an Intensität nichts zu wünschen übrig ließ. Ungemein akkurat bei allen Einsätzen und dynamisch packend entstand eine Beethoven-Aura, wie man sie sich nicht besser hätte wünschen können.

Der zweite Satz, der allseits bekannte Trauermarsch (Marcia funebre – Adagio assai), ist viel mehr als „nur“ das. Für mich ist er das eigentliche Kernstück der gesamten Sinfonie. Das düstere Trauerthema führt in dunkelste Tiefen der Ausweglosigkeit, bis dann – beginnend mit der wunderbar aufspielenden Oboe – deutlich gemacht wird, dass selbst in tiefster Hoffnungslosigkeit wieder Neues entstehen und die Trauer damit gebrochen werden kann, so als würde ein kleiner Pflanzentrieb durch leblos verbrannte Erde wieder zum Licht aufsteigen. Beethoven komponiert damit Hoffnung, übertreibt dabei aber ein wenig, da er den Triumph der Hoffnung hier schon orchestral vorwegnimmt. Damit greift er dem Schlusssatz voraus, was aber niemanden stören kann, da er dies alles in unglaublicher Schönheit entstehen lässt. Auch hier wieder ein beeindruckender Orchesterklang ohne jegliche Unsicherheiten in Technik und Ausdruck.

Der dritte Satz ist ein recht kurzes Scherzo (Scherzo – Allegro vivace), das eine Art rhythmisches Bindeglied zwischen dem getragenen Trauersatz und dem gloriosen Schlusssatz darstellt. Dieser schließt sich unmittelbar an den vorangegangenen an, kann aber hier noch nicht beginnen, da einige Zuhörer zwischen den Sätzen klatschen.

Der Schlusssatz (Finale: Allegro molto – Poco andante – Presto) kommt in ungestümem Tempo mit furioser Dynamik daher. Alan Gilbert ist darauf bedacht, es nicht langsam werden zu lassen, und genau dies wollen die MusikerInnen auch. Ihre Spielfreude ist an ihren Gesichtern abzulesen. All dies mündet in einen musikalischen Grundgestus der Erhabenheit, die wie eine gloriose Bestätigung des eingeschlagenen Weges imponiert. Packend, diesen Klang in der Elbphilharmonie zu erleben. So als könne Beethoven keinen Abschluss finden, verwendet er erneut sich ständig wiederholende Orchesterschläge, um die Sinfonie zum Abschluss zu bringern.

Großer und begeisterter Beifall für das NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert, die damit bereits am Mittag den festlichen Tageshöhepunkt gesetzt haben.

Dr. Holger Voigt, 30. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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