Ambleto: Die Sänger tanzen Barock-Salsa

„Ambleto“ (Hamlet) von Francesco Gasparini / Fredrik Schwenk  Theater für Niedersachsen, Hildesheim am 17. September 2022

Foto: Yohan Kim (Fengone), Kathelijne Wagner (Ildegarde), © Tim Müller

Die Oper „Ambleto“ (Hamlet) von Francesco Gasparini / Fredrik Schwenk  im Theater für Niedersachsen, Hildesheim, am 17. September 2022

von Jolanta Łada-Zielke

Hamlet all’italiana e alla latina – so kann man die neueste Produktion am Theater für Niedersachsen in Hildesheim nennen. Die Idee seines Intendanten Oliver Graf ist es, die Darstellungen verschiedener literarischer Themen jeweils als Theater-, Ballett- und Opernfassung auf der dortigen Bühne zu präsentieren. In der vergangenen Saison war es Medea, diesmal ist Hamlet an der Reihe. Die Regie, das Bühnenbild und die Kostüme bereiten für alle drei Fassungen verschiedene Künstlerinnen und Künstler vor, nur das Bühnenbild ist für alle drei Sparten einheitlich.

Zunächst musste man ein geeignetes Opernmaterial finden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schrieb der  italienische Barockkomponist und Sänger Francesco Gasparini  (1661-1720) eine Variation der  Hamlet-Thematik, die jedoch mit dem Shakespeare-Drama nichts zu tun hatte. Aus diesem Werk sind nur Fragmente in Form eines  1712 entstandenen Liederbuchs  erhalten. Der Hamburger Komponist Professor Fredrik Schwenk hat sie zusammengesetzt und durch  neue, eigene Musik ergänzt. Er hat ebenfalls das Libretto von Apostolo Zeno und Pietro Pariati  gekürzt und um einige Shakespeare-Zitate ergänzt. Im Endeffekt ist etwas wie ein restauriertes Gemälde entstanden, dessen Hauptteile aufgefrischt und die fehlenden Stellen ergänzt sind, zwar mithilfe moderner Technik, aber so geschickt, dass das eine mit dem anderen nicht kollidiert. Aus einer dreiaktigen ist eine Oper mit zwei Akten geworden.

Der einzige Nachteil dieses Projekts oder eher ein Hinweis für das Publikum ist die Notwendigkeit, die Geschichte von Hamlet zu kennen, ansonsten fällt es schwer, alle Nuancen des Bühnengeschehens zu erfassen. Die Vorgeschichte läuft ähnlich wie bei Shakespeare.

Der böse Fengone lässt seinen Bruder, den Herrscher Dänemarks, ermorden, und heiratet dessen Witwe Gerilda. Die Oper beginnt mit einem gescheiterten Attentat auf Fengone, das seine Frau verhindert. Hamlet täuscht Wahnsinn vor, um die Wachsamkeit seines Onkels zu mindern, und   ihn leichter umbringen zu lassen. Anstelle von Ofelia erscheint Veremonda, Ambletos Geliebte. Der General Valdemaro und Fengone begehren sie ebenfalls. Ihre Rivalin ist Ildegarde, die ehemalige Liebhaberin von Fengone. Sie versucht, Ambleto zu verführen, gerät aber schließlich in eine Beziehung mit Valdemaro. Die treibende Kraft hinter allen Handlungen ist Siffrido, der hier eine ähnliche Rolle wie die kluge Magd in Molières Theaterstücken spielt. Am Ende führt er zur Bestrafung des Usurpators und Vereinigung der zwei verliebten Paare. Doch Regisseurin Amy Stebbins sorgt dafür, dass nicht alles glücklich endet, wie es die Italiener im 18. Jahrhundert gerne hatten.

Neele Kramer (Gerilda), Julian Rohde (Siffrido), (c) Tim Müller

Das Bühnenbild von Anna Siegrot stellt eine Wand mit elf unterschiedlichen Türen dar. Die  Dramatis Personae kommen raus und rein, manche verstecken sich oder verschwinden hinter den Türen, wie nach dem Motto von Alfred Hitchcock: „Nichts ist geheimnisvoller als eine geschlossene Tür“.  

Die Titelfigur Ambleto beobachtet die Ereignisse auf der Bühne und verewigt sie mit seinem Fotoapparat. Gerilda ist Fengano scheinbar treu und warnt ihn vor der drohenden Gefahr. In Wirklichkeit wartet sie auf eine Gelegenheit, sich von ihm zu befreien. Veremonda ist Valdemaros Kriegsbeute, die ihre Sklaverei mit Würde erträgt; umso mehr, als die drei in sie verliebten Männer edle Absichten ihr gegenüber haben. Ildegarde präsentiert sich schwach als Femme fatale, jedoch viel spannender als Charakterfigur, die eine gesunde Distanz zu sich selbst hat. Neben starken, für die Barockoper typischen Emotionen, wie Machtgier und Leidenschaft, gibt es Anspielungen auf das totalitäre System: Belauschen, Verschwörungstheorien, Erpressung und Manipulation.

Felix Mischitz (Ambleto), (c) Tim Müller

Musikalisch ist „Ambleto“ ein Festival der hervorragenden, noch jungen Stimmen. In der Titelpartie tritt der sanfte und edle Bariton Felix Mischitz auf. Er singt  lyrisch, dramatisch und sogar ironisch zu den richtigen Momenten. Yohan Kim als Fengone  bezaubert mit seiner klaren und starken Tenorstimme, besonders in der dramatischen Arie, in der er erzählt, dass überall seine Feinde lauern.

Sonja Isabel Reuter (Veremonda), Felix Mischitz (Ambleto), (c) Tim Müller

Der aus Südafrika stammende Bariton Eddie Mofokeng verkörpert den tapferen General Valdemaro und ebenso tapfer singt er seine Partie, voll von langen Koloraturpassagen.

Alle drei Frauenrollen ergänzen sich perfekt. Die Sopranistin Sonja Isabel Reuter hat eine große, saftige Stimme und verfügt über eine großartige Technik, mit der sie sich leicht und anmutig auf den barocken Koloraturen bewegt. Auch die Dynamik setzt sie gekonnt ein. Nicht weniger charmant, aber lyrischer ist Kathelijne Wagner als Ildegarde. Die Mezzosopranistin Neele Kramer singt Gerilda sehr ausdrucksstark und geht sanft in die Brustlage über. Interessant interpretiert Julian Rohde seine Figur, besonders gesanglich. In seiner Stimme steckt etwas Beunruhigendes, leicht Kreischendes, was auf Siffridos Zweideutigkeit  hinweist. Dennoch sind alle seine Klänge klar und rund. Dieser hervorragende junge Tenor beweist, dass man die Bosheit seines Charakters mit der Stimme spielen kann, ohne die Schönheit der Gesangskunst zu verlieren. Der aus fünfzehn Personen bestehende Chor ergänzt glänzend die gesangliche Ebene der Aufführung.

Eddie Mofokeng (Valdemaro), Sonja Isabel Reuter (Veremonda), Yohan Kim (Fengone), Felix Mischitz (Ambleto), Marco Simonelli (Chor), (c) Tim Müller

Fredrik Schwenk hat nicht nur ein wertvolles, zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Werk in Szene gesetzt, sondern mit seiner Ausarbeitung etwas Würze hineingebracht. Im Barockorchester hat er einige alte Instrumente wie  Blockflöten und Naturtrompeten behalten, sowie Theorbe und Cembalo für den Generalbass eingesetzt. Dazu kommen Schlagzeug und elektronische Instrumente, ihr Einsatz ist jedoch dezent und stört den allgemeinen Eindruck nicht. Der Dirigent Florian Ziemen achtet auf die richtigen Proportionen zwischen der Treue zur Tradition und deren Bereicherung durch die Moderne. Das Schlagzeug betont unter anderem besonders militärische Passagen, wie die Arie Fengones „Sulla fronte!“.

In einigen A-B-A-Arien fügt Professor Schwenk  der Wiederholung das Schlagzeug hinzu, das die Koloraturen um einen tanzbaren Rhythmus bereichert. Dieses Vorgehen soll vor allem Gerilda charakterisieren, die im Regiekonzept aus dem lateinamerikanischen Kreis stammt. Beim Hören des Duos von Gerilda und Siffrido im ersten Akt habe ich den Eindruck, dass sie beide gleichzeitig anfangen, Salsa oder kubanische Rumba zu tanzen. Ein Fragment einer solchen Latino-Disco mit dem Tanz haben wir tatsächlich am Ende des zweiten Akts.

Nach Fengones Tod übernimmt Ambleto die Herrschaft  über Dänemark, aber wenn die Schlussakkorde erklingen, verschwinden alle seine Mitstreiter, jeder hinter einer anderen Tür. Der überraschte Titelheld öffnet sie alle der Reihe nach und stößt plötzlich auf sein alter Ego – einen Fotografen. Sein Sieg ist nicht eindeutig, es besteht die Gefahr, dass er zum gleichen Tyrannen wie sein Onkel wird und ebenfalls einer Verschwörung zum Opfer fällt. Das italienische lieto fine (Happy End), das am Ende der Barockoper kommt, ist hier fragwürdig. Dieser interessante Regietrick regt die Zuschauer zum Nachdenken an.

Wenn ich Professor Schwenks Werke außerhalb Hamburgs sehe oder höre, frage ich mich, ob seine Stadt überhaupt weiß, was für einen Schatz sie hat. Zum Glück liegt Hildesheim nicht weit entfernt, und es lohnt sich wirklich, dahin zu kommen, um „Ambleto“ im Theater für Niedersachsen zu sehen. Ich wünschte mir, dieses Spektakel würde am nächsten Festival Bayreuth Baroque teilnehmen.

Jolanta Łada-Zielke, 23. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

„Ambleto“ – Oper in zwei Akten von Francesco Gasparini, bearbeitet und neu komponiert von Fredrik Schwenk

Musikalische Leitung: Florian Ziemen
Inszenierung: Amy Stebbins
Bühne + Kostüme: Anna Siegrot
Chor: Achim Falkenhausen

Video Elisabeth Köstner, Lars Neumann
Besetzung: Felix Mischitz (Ambleto), Yohan Kim (Fengone), Sonja Isabel Reuter (Veremonda), Neele Kramer (Gerilda), Eddie Mofokeng (Valdemaro), Julian Rohde (Siffrido), Kathelijne Wagner (Ildegarde), Opernchor

Weitere Vorstellungen:

25.09.22 19:00 Theater für Niedersachsen Hildesheim (großes Haus)
08.10.22 19:30 Theater für Niedersachsen Hildesheim (großes Haus)
09.10.22 18:00 Theater auf dem Hornwerk Nienburg an der Weser
20.10.22 19:30 Theater für Niedersachsen Hildesheim (großes Haus)

Béla Bartók, Herzog Blaubarts Burg Luzerner Theater, 16. September 2022

Richard Wagner, Lohengrin Theater Lübeck, 4. September 2022 PREMIERE

 

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