Foto: Wilfried Hösl (c) Bayerisches Staatsballett, Nationaltheater, München, 1. Oktober 2018
Anna Karenina, Ballett von Christian Spuck (Spielzeitpremiere)
Nach dem gleichnamigen Roman von Lew N. Tolstoi
Musik von Sergej Rachmaninow, Witold Lutoslawski, Sulkhan Tsintsadze, Josef Bardanashvili
von Barbara Hauter
Ein Handlungsballett aus dem 21. Jahrhundert erzählt in der Ballettsprache des 20. Jahrhunderts eine tragische Geschichte aus dem 19. Jahrhundert: Das funktioniert dank Weltklasse-Tänzern und einer musikalischen Leitung, die alles zusammenhält. Und dem Publikum gefällt´s. Kein Wunder: Die Solisten tanzen gefühlsintensiv, die Musik ist spannend zusammengestellt und perfekt präsentiert, das Bühnenbild leicht verständlich und die Kostüme hübsch anzusehen.
Tolstois Anna Karenina ist eine der großen tragischen Frauenfiguren der Weltliteratur. Anna, unglücklich verheiratet mit Alexej Karenin, verliebt sich in den jüngeren, charmanten und aufmerksamen Graf Wronski und – das ist der Skandal – lebt diese Liebe. Sie verliert ihren Sohn an ihren Mann, wird aus der Gesellschaft ausgestoßen und endet tragisch. Sie wirft sich vor den Zug. Die Story wird kompliziert, weil es bei Tolstoi viele ineinander verwobene Nebenhandlungen gibt. Zwei davon bringt Choreograf Christian Spuck mit auf die Bühne: die Ehen von Annas Bruder Stiwa und seiner Frau Dolly und die von Kostja und Dollys Schwester Kitty.
Als Zuschauer ist man zunächst gefordert, herauszufinden, wer wer ist. Die häufigen Kostümwechsel der Damen machen das leider nicht einfacher. Sobald das gelungen ist, kann man sich ganz dem sehr emotionalen Tanz der Hauptdarsteller hingeben. Wie die drei Ehen laufen, wird deutlich vor Augen geführt, als auf dem Ball die drei Paare parallel nebeneinander ihre Pas de Deux tanzen. Anna (Ksenia Ryzhkova) und Alexej (Emilio Pavan) kämpfen dramatisch, von einander abgestoßen und doch immer wieder vom anderen angezogen und um Gemeinsamkeit bemüht. Stiwa (Javier Amo) und Dolly (Elvina Ibraimova) sind abgrundtief unglücklich miteinander. Dollys ganzer Körper sträubt sich gegen ihn. Nur Kostja und Kitty sind harmonisch verliebt, und die Körper bemühen sich umeinander. Die Heiterkeit der beiden vor der tragisch düsteren Inszenierung liebt das Publikum – Jinhao Zhang und Laurretta Summerscales bekommen immer wieder Szenenaplaus.
Christian Spuck beleuchtet die psychologische Tiefe der Beziehungen. Trotz des Zeitraffer-Tempos in der Story gelingt ihm das, denn er hat Spitzen-Tänzer zur Verfügung. Annas Zerissenheit zwischen den beiden Männern Karenin und Wronski tanzt Ksenia Ryzhkova so intensiv, dass man ihren Schmerz selbst zu spüren meint. Sehnend streckt sie sich nach dem einen und wird von dem anderen über den Boden gezerrt – ihre beiden Partner stehen ihr im Ausdruck in nichts nach. Emilio Pavan gibt seinen Karenin ganz als den kalten, strengen, gesellschaftskonformen Ehemann, der Anna Zärtlichkeit und Geborgenheit verweigert. Jonah Cook ist ein umwerfender Wronski – schmeichelnd, umwerbend, aufmerksam, liebevoll. Aber nach der großen, romantisch-zärtlich getanzten Liebesszene der beiden entfernt er sich von Anna, ihre Körper entfremden sich. Anna ist verlassen. Ihr Körper schreit regelrecht auf, als ihr der Mann auch noch den gemeinsamen Sohn entzieht.
Der “Sprachlosigkeit” des Balletts begegnet Spuck mit der Musikauswahl. Sie spiegelt die großen Gefühle. Rachmaninows aufwühlenden, süßen, schweren Klavierstücke, vom Pianisten Adrian Oetiker markant und mit viel Tiefe gespielt, krachen regelrecht auf die modernen, fast schon schmerzhaften Klänge von Lutoslawski und Tsintsadze. Dazu kommen Szenen, in denen Sound-Collagen den Takt vorgeben: heranrollende Dampflokomotiven oder schneidende Sensen. Der musikalische Leiter Robertas Servenikas hält alles zusammen.
So viel Tragik endet in der Münchner Karanina-Inszenierung in einem fast unspektakulären Freitod Annas. Statt dramatisch vom Zug überrollt zu werden, bricht sie zusammen. Aber es geht Spuck ja auch nicht um ein “Nachbuchstabieren” des Romanes. Nicht um Kitsch und Melodrama. Er will seine Figuren “wie durch ein Mikroskop” betrachten. Der Zuschauer blickt auf die große Bühne des Nationaltheaters wie durch eine Lupe. Und sieht große Gefühle. Gut gemacht Herr Spuck! Sehr gut!
Barbara Hauter, 2. Oktober 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Alexej Karenin: Emilio Pavan
Anna Karenina: Ksenia Ryzhkova
Graf Alexej Wronski: Jonah Cook
Kostja: Jinhao Zhang
Kitty: Laurretta Summerscales
Stiwa: Javier Amo
Dolly: Elvina Ibraimova
Bayerisches Staatsballett unter Ballettdirektor Igor Zelensky
Sängerin: Natalia Kutateladze
Pianist: Adrian Oetiker
Bayerisches Staatsorchester unter der Leitung von Robertas Servenikas
Uraufführung: 12. Oktober 2014 in Zürich
Deutsche Erstaufführung: 19. November 2017, München
Barbara Hauter, M.A. Germanistik, Psychologie und Biologie, schreibt seit sie die Tastatur bedienen kann, für Tagespresse, Zeitschriften und Internet. Als Redakteurin betreute sie viele Jahre Foto- und Tierzeitschriften. Als freie Journalistin sind ihre Themenschwerpunkte Menschen, Tiere und Medizin. Ihre Passion sind „Kritiken fürs Volk“, weil sie dafür brennt, mehr Menschen für Klassik und Ballett zu begeistern. Barbara Hauter lebt in der schönen Opernstadt München.