Eine auf die Bühne stürmende Anna Laudere als Anna Karenina, dahinter von links Matias Oberlin als ihr Gatte Alexej Karenin, Ballettschüler Felix Koch als beider Sohn Serjoscha, Hayley Page als Annas Schwägerin Dolly, Florian Pohl als ihr Ehemann Stiwa sowie Greta Jörgens als Prinzessin Sorokina (Fotos RW)
Trotz der das Liebespaar betreffenden Einschränkungen war es ein herausragender, großer Ballettabend, wie wir ihn in der Zukunft unter dem neuen Intendanten Demis Volpi wohl nicht mehr so häufig sehen werden. Man hörte es beim Hinausgehen: „Wie schön, dass wir das erleben durften“.
Anna Karenina
Ballett von John Neumeier inspiriert von Leo Tolstoi
Choreographie, Bühnenbild (unter Mitarbeit Heinrich Tröger), Licht und Kostüme von John Neumeier (Annas Kostüme von Albert Kriemler)
Video und Graphik: Kiran West
Musik von Peter I. Tschaikowsky, Alfred Schnittke und Cat Stevens/Yusuf Islam
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Leitung Nathan Brock
Hamburg Ballett, 26. April 2024
von Dr. Ralf Wegner
Wenn ein herausragender Tänzer und eine wunderbare Tänzerin zusammen von der Liebe erzählen, sollte das Ergebnis eigentlich bezwingen. Anna Laudere ist als Anna Karenina eine begnadete Tänzerin, die sich aber nicht, so wie es bei Tolstoi steht, beim Anblick „dieses Knaben in Uniform“ entzündet. Anders als bei ihrem Ehemann Edvin Revazov als Wronsky, mit dem sie sonst zusammen tanzte. Laudere schmolz in Revazovs Armen wie Schnee in der Sonne (wie man es auf der käuflichen DVD dieses Balletts sehen kann), sie sah zu ihm auf, ebenso wie gestern zu ihrem Ehemann Karenin oder ihrem sie ebenfalls um einen Kopf überragenden Sohn Serjoscha.
Alexandr Trusch als Wronsky lässt sie kalt, Laudere spielt Liebe, empfindet sie aber nicht. Dabei kann es nicht die Körperhöhe sein, die Anna Laudere und Alexandr Trusch verbinden, denn auch Emilie Mazon als Kitty und Aleix Martínez als Lewin sind eher klein, und überzeugen dennoch mit einer sich langsam entwickelnden, im Laufe des Abends wachsenden Liebesbeziehung.
Wronsky ist schon bei Tolstoi jede Entwicklung verwehrt, und der Tänzer Trusch darf nicht zeigen, was er darstellerisch kann und auch in anderen Paarbeziehungen, zum Beispiel mit Madoka Sugai, bewiesen hat. Wronsky entwickelt kein Eigenleben, er verharrt immer als Liebesprojektion einer selbstverliebten Anna (Karenina). Und Laudere nimmt ihm diese Last nicht ab, sie ist schlichtweg nicht verliebt in diesen jungen Mann, zu dem sie nicht aufsehen kann. Sie hegt offensichtlich mütterliche Gefühle für diesen „Knaben in Uniform“.
Darunter litten beider Pas de deux, nicht nur der schwarze, von lustvollem Verlangen geprägte, sondern selbst der großartige Italien-Pas de deux nach der Pause.
Weitaus stärkeren Eindruck hinterließ Truschs anschließende Auseinandersetzung mit dem Tod bzw. dem Schicksal in Gestalt eines Muschik (eigentlich ein vor Anna tödlich verunfallter Bahnarbeiter), überzeugend getanzt von Karen Azatyan.
Weiterhin beeindruckte der Pas de deux zwischem dem nach menschlicher Wärme suchenden Karenin (Matias Oberlin) und der ihn wie eine griechische Göttin einlullenden Gräfin Lydia Iwanowna (Xue Lin). Beide tanzten ganz wunderbar. Hier passte sogar der Lin eigene, gleichbleibende mimische Ausdruck. Oberlin überzeugte zudem als nach Erfolg strebender Politiker, am Anfang eher selbstverliebt, sich zum leidenden Ehemann wandelnd, der aber zu spät sein Versäumnis um seine frustrierte Ehefrau erkennt.
Trotz der das Liebespaar Anna/Wronsky betreffenden Einschränkungen war es ein herausragender, großer Ballettabend, wie wir ihn in der Zukunft unter dem neuen Intendanten Demis Volpi wohl nicht mehr so häufig sehen werden. Man hörtes es beim Hinausgehen: „Wie schön, dass wir das erleben durften“. Das Ballett Anna Karenina mit seinen insgesamt 66 auf der Bühne mitwirkenden Tänzerinnen und Tänzern wird zumindest in der neuen Spielzeit nicht wieder aufgeführt werden.
John Neumeiers meisterliches Ballett hat, abgesehen von den drei Pas de deux Anna/Wronsky, so viele weitere Höhepunkte und beeindruckende Szenen. Vor allem überzeugte erneut die grandiose tänzerische Darstellung von Emilie Mazon als zunächst fröhliche, auf Wronskys Antrag hoffende, dann enttäuschte und schließlich seelisch erkrankende Kitty, die sich infolge inständiger Bemühungen Lewins erholt.
Mit vergleichbarer physischer und darstellerischer Leistung nahm Aleix Martínez als gutmütiger Lewin für sich ein. Ohne ihn mag man sich Lewin, der um Kitty kämpft und die Landwirtschaft revolutionieren will, eigentlich nicht vorstellen. Wie genau trifft Neumeier Lewins sozial-romantische Vorstellung von einer landwirtschaftlichen Kommune unter Gleichberechtigten mit seinem Sensenballett von 25 Tänzern. Das muss man gesehen haben. Und wie berühren die Szenen mit Dollys Kindern, die um ihre Mutter, wunderbar getanzt von Hayley Page, ringen. Allein der Moment, wenn Lily (Tilda Lemke), ihre jüngste, sich gemessenen Schritts, wie eine kleine Balletteuse, der Mutter nähert, ist von John Neumeier zu Herzen gehend ausgedacht.
Wen soll man noch nennen, Florian Pohl als notorischen Fremdgänger Stiwa, Felix Koch von der Ballettschule als Karenins Sohn Serjoscha, Francesca Harvey als Tatjana, Ida Stempelmann als minutenlang am linken Bühnenrand in festgefrorener schräger Stellung verharrender Anhängerin Karenins oder Artem Prokopchuk, der sich als Wronkys Regimentskamerad Berkoschew in der Turnhalle beeindruckend am Seil hochhangelt.
Das Publikum im ausverkauften Hamburger Opernhaus folgte dem Stück die ganze Zeit mucksmäuschenstill, kein Zwischenbeifall trübte die Vorstellung. Am Ende entlud sich der Jubel über das herausragende Hamburger Ballettensemble, es gab Blumen für Anna Laudere und vor allem für Hayley Page für ihr Debüt als Dolly.
Dr. Ralf Wegner, 27. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Anna Karenina, Ballett von John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 06. Mai 2022