Aleix Martinez und Emilie Mazoń sind Lewin und Kitty, wie direkt aus Tolstois Roman entsprungen. Beide sind in ihrer darstellerischen Kraft unübertrefflich. Wie Martinez im ersten Akt unter einem übergroßen Mond von einem Heuballen herabsteigt und über Gott und die Welt sinniert (Cat Stevens: Moonshadow), ist großartig choreographiert und von dem Ersten Solisten des Hamburger Balletts mit dem ihm eigenen körperlichem Einsatz unnachahmlich interpretiert.
Italien-Pas de deux: Edvin Revazov (Graf Wronsky) und Anna Laudere (Anna Karenina) (Foto: Kiran West)
Staatsoper Hamburg, 6. Mai 2022
Anna Karenina
Ballett von John Neumeier, inspiriert von Leo Tolstoi
von Dr. Ralf Wegner
In Tolstois Roman gibt es zwei Personen, die eher negativ gezeichnet werden, das Geschwisterpaar Anna und Stiwa. Beide betrügen ihre Ehepartner, nur sie wird dafür gesellschaftlich abgestraft. Nicht wegen des Verhältnisses mit dem Grafen Wronsky, sondern wegen ihrer Unfähigkeit, das Liebesverhältnis unter der Decke zu halten. Sie will beides: Die gesellschaftliche Stellung und damit ihren Sohn Serjoscha nicht verlieren und gleichzeitig den Geliebten auf ewig an sich binden. Anna scheitert aber an dem Zwiespalt, wird eifersüchtig und entledigt sich des Konflikts durch Suizid „Ich kann sie nicht miteinander vereinen – und gerade das ist für mich eine Lebensnotwendigkeit. Wenn mir dies versagt bleibt, ist mir alles andere gleich, vollkommen gleich“.
Dolly, Stiwas Mann und damit Annas Schwägerin, findet sich mit ihrer Ehe, so wie sie ist, ab. Ihr reicht es, sich in Annas Lage hineinzuversetzen und Stiwa gedanklich ihrerseits einen Liebhaber vor die Nase zu setzen: „Wie Anna alles ihrem Gatten gestanden hatte, so tat sie in Gedanken das gleiche, und die Vorstellung von der sprachlosen Betroffenheit Stepan Arkadjewitschs (Stiwas) bei diesem ihrem Geständnis entlockte ihr ein triumphierendes Lächeln“.
Xue Lin (Lydia, Assistentin von Karenin), Karen Azatyan (Ein Muschik), Emilie Mazoń (Kitty, Dollys Schwester), Aleix Martinez (Lewin), Edvin Revazov (Graf Wronsky, Annas Geliebter), Anna Laudere (Anna Karenina, Schwägerin von Dolly), Ivan Urban (Alexej Karenin, Annas Ehemann), Mariá Huguet (Serjoscha, Alexejs und Annas Sohn), Patricia Friza (Dolly), Florian Pohl (Stiwa, Annas Bruder und Ehemann von Dolly, Freund Lewins) (Foto: RW)
Patricia Friza verschmolz tänzerisch und darstellerisch mit dieser Figur, aufbrausend gegenüber ihrem Mann und resignierend liebevoll im Umgang mit ihren 5 Kindern. Vor allem in dem Part „Dollys Entscheidung“, in der sie es nicht übers Herz bringt, ihre um sie werbenden Kinder zu verlassen. Besser lässt sich Tolstois Beschreibung einer mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigten Mutter nicht auf die Bühne übertragen: „…und so schwer außerdem für sie als Mutter auch die Angst vor Krankheiten, Krankheiten selbst und der Kummer über schlechte Neigungen, die sich bei den Kindern zeigten, zu ertragen waren – die Kinder entschädigten sie schon jetzt mit kleinen Freuden für ihre Kümmernisse. Diese Freuden waren allerdings so winzig, dass man sie, wie Gold im Sande, kaum erkennen konnte, und in dunklen Augenblicken sah sie wirklich nur den Sand der Trübsal“.
Dollys Ehemann und Schwerenöter Stepan bzw. Stiwa war Florian Pohl anvertraut „Ja, er hatte sogar angenommen, dass sie, die welkende, alternde, nicht mehr hübsche und in keiner Weise bemerkenswerte Frau, die nur eine einfache, gütige Familienmutter war, schon aus Gerechtigkeitsgefühl weitherzig sein würde. Und jetzt hatte sich in so erschreckender Weise das Gegenteil gezeigt“. Er hat diese Rolle von dem Stiwa der Uraufführung, dem aus der Compagnie ausgeschiedenen Dario Franconi, übernommen. Der 32jährige Pohl schien mir für diese Rolle als schürzenjägerisches Familienoberhaupt mit fünf Kindern allerdings noch zu jung.
Patricia Friza (Dolly) und Florian Pohl (Stiwa) (Foto: RW)
Stiwa ist mit Lewin, einem sozialträumerischen Landeigner, befreundet. Lewin verehrt die aus reichem Hause stammende, anfangs etwas oberflächliche Kitty, Dollys Schwester. Kitty verlobt sich mit dem Grafen Wronsky, den Anna ihr aber ausspannt: „Die Schönheit ihrer ganzen Gestalt (Annas), ihres Kopfes, ihres Halses, ihrer Arme überraschte Wronsky immer von neuem, wie etwas völlig Unerwartetes“.
Kitty erkrankt seelisch und wird von Lewin wieder ins Leben zurückgeholt. Sie heiraten, ziehen aufs Land und gründen eine Familie. Aleix Martinez und Emilie Mazoń sind Lewin und Kitty, wie direkt aus Tolstois Roman entsprungen. Beide sind in ihrer darstellerischen Kraft unübertrefflich. Wie Martinez im ersten Akt unter einem übergroßen Mond von einem Heuballen herabsteigt und über Gott und die Welt sinniert (Cat Stevens: Moonshadow) ist großartig choreographiert und von dem Ersten Solisten des Hamburger Balletts mit dem ihm eigenen körperlichem Einsatz unnachahmlich interpretiert. Auch das Sensenballett im zweiten Akt mit 27 Tänzern (Cat Stevens: Morning Has Broken) zeugt von der romantisch-revolutionären Vorstellung Lewins über die Landwirtschaft, wie sie Tolstoi in seinem Roman beschreibt.
Kitty holt Lewin wieder in die Wirklichkeit zurück, wahrscheinlich führt eher sie das landwirtschaftliche Gut als ihr Ehegatte, davon zeugt im zweiten Akt ihr Einsatz auf dem Trecker in Arbeitskleidung. Ein Höhepunkt der Neumeierschen Choreographie ist der Part Kittys Verzweiflung, der die von Wronsky Abgewiesene autoaggressiv in tiefem Gram zeigt, von Mazoń völlig überzeugend interpretiert. Wie Martinez sich ihr vorsichtig nähert, sie stützt, zurückgewiesen wird, sich ihr trotzdem wieder nähert und am Ende geht, von ihr im letzten Moment zurückgehalten, ist von beiden tief ergreifend dargestellt.
Bleiben Annas Männer und Anna selbst. Neumeier sieht Karenin positiver als Tolstoi, als einen Liebenden, der um die ihm entgleitende Beziehung trauert und den Liebhaber seiner Frau bereit ist zu akzeptieren, aber nicht um den Preis eines öffentlichen Eklats. Karenin ist bei Neumeier ein bedeutender Politiker, der im Wahlkampf wenig Zeit hat für seine schöne, immer auf äußere Wirkung bedachte, die innere Leere nicht bewältigende und sich nach Zuwendung sehnende Ehefrau. Ivan Urban hat diese Rolle kreiert und setzt sie nach wie vor mit überzeugender Darstellungskraft um.
Annas auf Äußerlichkeiten bedachtes Wesen zeigt sich bei Neumeier auch optisch mit ihrer Garderobe. Als Einzige führt sie eine Vielzahl schöner Roben des Modedesigners Albert Kriemler vor. Ganz im Gegensatz zu Kitty, die sich, lebensklug weiter entwickelnd, mit ihrem Äußeren der neuen Lebenssituation auf dem landwirtschaftlichen Gut anpasst.
Die aparte Anna Laudere ist Anna. Wie sie sich neben dem die aktuellen Zeitungsnachrichten studierenden Karenin nach Zuneigung sehnt oder in den Armen ihres Liebhabers Wronsky (Edvin Revazov) dahinschmilzt, ist perfekt empfunden und tänzerisch vollkommen überzeugend präsentiert, so in dem Pas de deux mit Wronsky während Kittys Verlobungsfeier. Beider leicht-luftiger Italien-Pas de deux zu Beginn des zweiten Aktes gehört außerdem zu den schönsten tänzerischen Erfindungen in diesem Stück (zur Musik aus Tschaikowskys Souvenir de Florence, Adagio Cantabile e con moto). Anna Laudere und Edvin Revazov sind für diese Rollen optisch und tänzerisch ein perfektes Paar.
Neumeier führt in seinem Ballett mehr als 20 namentlich bezeichnete Rollen auf. Darunter einen von ihm erfundenen Muschik, getanzt von Karen Azatyan. Er erinnert Anna an den Unfall auf dem Bahnhof, bei dem ein Arbeiter zu Tode kam. Er begleitet sie in ihren Träumen und verschmilzt, Annas Seelenzustand bis zum Drehschwindel steigernd, schließlich mit Karenin und Wronsky. Er ist Annas Lebens- und Todesbegleiter. Xue Lin tanzt Karenins Assistentin und später sich treu um ihn sorgende Freundin Lydia. Mariá Huguet überzeugt als Annas Sohn Serjoscha. Beiden hat Neumeier schöne Pas de deux choreographiert. Yaiza Coll hat als Sängerin Tatjana am Ende des Stücks einen beeindruckende Auftritt und in vielen kleinen Nebenrollen sieht man großartige Tänzerinnen und Tänzer wie u.a. Madoka Sugai oder Christopher Evans.
Neumeiers Interpretation des Tolstoischen Roman ist nicht die erste auf der Ballettbühne. Christian Spucks Version sahen wir 2017 in München. Bei aller tänzerischer Perfektion war es kein erinnerungswürdiger Abend. Die recht komplexe Handlung wurde zwar vordergründig nacherzählt, aber ohne die Seelenzustände der Protagonisten auch nur annähernd auszuloten. Zudem wurde von einem tristen Bühnenbild mit schwarzgrau ausgeschlagenen Wänden jedes Gefühl von Leben und Freude unterdrückt.
Neumeiers Choreographie, sein Bühnenbild, seine Lichtregie und die Kostümierung zeigen dagegen die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen von tiefer Trauer bis zum innigen Glück. Es ist überwältigend, mit welcher Treffsicherheit Neumeier die Gefühlswelten der Tolstoischen Figuren tänzerisch zum Ausdruck bringt. Dazu gehören aber auch die notwendigen Interpreten. Denn darstellerisch wird den Tänzerinnen und Tänzern ungemein viel abverlangt. Dabei steht niemand auf der Bühne, dem es nicht gelänge, die Empfindungen des Tolstoischen Menschenzirkus durch Hingabe an die jeweilige Rolle überzeugend und berührend zum Ausdruck zu bringen.
Dr. Ralf Wegner, 7. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
„Ghost Light“, Ballett von John Neumeier, Hamburg Ballett, 16. Juni 2021
Ballette für Klavier und Stimme, 4 Ballette von John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 22. Oktober 2020