Die Neuen: Jacopo Bellussi als Wronski, Olga Smirnova als Anna Karenina, Christopher Evans als Karenin, Quinn Bates als Aljoscha, Madoka Sugai als Dolly und Nicolas Gläsmann als Stiwa (Foto RW)
Olga Smirnova tanzte die Partie der Anna Karenina voller Anmut und mit technischer Finesse. Fast schlangenartig umgarnte sie den ihr hingebungsvoll verfallenen Grafen Wronski. Dabei genoss sie auch die Aufmerksamkeit als Frau des Politikers Karenin. Daraus hätte eine Ménage à trois werden können.
Anna Karenina in neuer Besetzung
Ballett von John Neumeier inspiriert von Leo Tolstoi
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Leitung Nathan Brock
Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 8. Mai 2024
von Dr. Ralf Wegner
Von den 29 Aufführungen seit der Premiere im Juli 2017 haben wir neun, einschließlich einer Voraufführung sogar 10 Vorstellungen dieses meisterlichen Balletts sehen dürfen. Und immer noch fallen choreographische Details auf, wie wir sie vorher nicht bemerkten oder übersahen.
Bei der gestrigen Aufführung mit einer weitgehenden Neubesetzung der Hauptpartien tanzte die 32-jährige, jetzt beim Holländischen Nationalballett engagierte, aus St. Petersburg stammende Olga Smirnova die Partie der Anna voller Anmut und mit technischer Finesse. Sie beeindruckte mit weit ausholenden Armen und fast senkrecht in die Höhe geworfenem Spielbein. Fast schlangenartig umgarnt sie Wronski (Jacopo Bellussi), den ihr hingebungsvoll verfallenen Liebhaber. Zwischen beiden stimmte die Chemie.
Dabei hinterließ Smirnova nie den Eindruck, sich bei ihrem Ehemann Karenin (dem 29-jährigen Christopher Evans) zu langweilen, sie genoss vielmehr die ihr zugedachte Aufmerksamkeit als Politikerfrau, außerdem ist Karenin der Vater ihres geliebten Sohnes Aljoscha. In Wronskis Zuneigung sieht sie sich aber selbst gespiegelt, und bleibt dabei eine Gefangene ihrer Eifersucht. Die (auf der Bühne) fast gleichaltrigen Männern sind für sie zwei Seiten derselben Medaille. Sie entzieht sich allerdings einer Ménage à trois, die als möglicher Ausweg erscheint. Zumindest legt es der Pas de trois Anna/Karenin/Wronski nach der Entbindung ihrer Tochter nahe.
Anna hat eine dritte Beziehung, zu ihrem Sohn Aljoscha. Dieser wurde von dem Ballettschüler Quinn Bates ganz vorzüglich getanzt und interpretiert. Mit seinem schnellen Drehimpuls und seinen Sprüngen ähnelt er dem zeitweilig beim Hamburger Ballett engagierten finnischen Tänzer Atte Kilpinen. Besonders hervorstechend war allerdings seine intensive Darstellung des zwischen Vater und Mutter hin- und hergerissenen Jungen, seine gespielte Naivität vor dem Vater und seine Vertrautheit im Umgang mit der Mutter.
Neubesetzt waren auch die Rollen von Stiwa und Dolly. Nicolas Gläsmann ließ als testosterongestählter Stiwa erkennen, dass er nicht anders kann, als immer wieder neue Liebschaften zu suchen, und Madoka Sugai kämpfte mit physischer Kraft und Hingabe gegen diesen Mann an. Sie will ihn zurück und nicht mit anderen teilen. Sich, wie bei Tolstoi, auf die Mutterschaft zu konzentrieren, liegt ihr (noch) nicht.
Über Aleix Martínez’ großartige Leistung als Lewin braucht man nichts mehr zu sagen, er unterstützte seine junge Kollegin Greta Jörgens (Kitty) vortrefflich und zeigte, das stetes Werben und Verzeihen auch zum Liebesglück führen kann. Dabei romantisiert er nicht die Beziehung zu Kitty, sondern verliert sich romantisch verbrämt im Landleben und der Landwirtschaft.
Karen Azatyan beeindruckte erneut als Todesbote (Muschik), ebenso Xue Lin als Karenin tröstend umgarnende Gräfin Lydia. Wer fiel sonst noch auf, diesmal mit hoher Dreh- und Sprungkraft Elliot Worrell als Nr. 38 im Lacrosse-Spiel.
Und zum ersten Mal wurde mir die Szene mit der Sängerin Tatjana (Francesca Harvey) richtig bewusst. Allerdings hatten wir erst kurz zuvor Tschaikowskys Oper Eugen Onegin gesehen. Tatjana zeigt Anna den Brief, den sie für Onegin entworfen hat, Anna liest und zerreißt ihn; denn sie weiß, dass Tatjanas sehnsüchtige Liebe unerfüllt bleiben wird. Der Brief stürzt sie nur noch weiter in ihre schwere Lebenskrise hinein, und sie entzieht sich ihrer Qual unter den Rädern des vorbeirollenden Zuges (Tolstoi: Aber im selben Augenblick erschrak sie aufs tiefste über das, was sie getan hatte. Wo bin ich? Was tue ich? Warum? Sie wollte sich erheben, sich zur Seite wälzen, aber etwas Gewaltiges, Erbarmungsloses versetzte ihr einen Schlag auf den Kopf, und zerrte sie am Rücken mit sich fort, Herr vergib mir alles! Flüsterte sie, da sie spürte, dass sie sich nicht mehr wehren konnte).
Dr. Ralf Wegner, 9. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Anna Karenina, Ballett von John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 06. Mai 2022