Anna Karenina: Die beste Münchner Ballettproduktion der letzten 10 Jahre

Anna Karenina, nach Sergej Rachmaninov, Witold Lutoslawski,  Bayerische Staatsoper, München

Foto: Wilfried Hösl (c)
Bayerische Staatsoper München,
30. Juni 2018
Anna Karenina
, nach Sergej Rachmaninov, Witold Lutoslawski

Choreographie, Christian Spuck
Musikalische Leitung, Robertas Servenikas
Dramaturgie, Michael Klüster, Claus Spahn
Sängerin, Helena Zubanovich
Pianist, Adrian Oetiker
Alexej Karenin, Emilio Pavan
Anna Karenina, Ksenia Ryzhkova
Graf Alexej Wronski, Jonah Cook
Stepan Oblonski (Stiwa), Tigran Mikayelyan
Darja Oblonsjaka (Dolly), Elvina Ibraimova
Konstantin Lewin (Kostja), Jinhao Zhang
Jekatarina Schtscherbazkaja (Kitty), Laurretta Summerscales
Betsy Twerskaja, Prisca Zeisel
Betsys Begleiter, Dustin Klein
Gräfin Lydia Iwanowna, Séverine Ferrolier
Gräfin Wronskaja, Elaine Underwood
Prinzessin Sorokina, Madeleine Dowdey
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester

Von Raphael Eckardt

Mit „Anna Karenina“ hat die Bayerische Staatsoper seit geraumer Zeit eine Ballettproduktion im Spielplan, die an Superlativen kaum zu übertreffen ist. Nicht nur aufgrund eines tänzerisch und musikalischen Weltniveaus, sondern auch aufgrund einer thematisch beeindruckenden Aktualität: Eine Frau nimmt sich selbst ihre Freiheiten und bringt damit die russische Gesellschaft gegen sich auf. Dass Lew Tolstoi bereits 1878 in seinem Roman „Anna Karenina“ auf derartiges Themenmaterial zurückgriff, zeigt nicht nur die scheinbare Zeitlosigkeit von Gesellschaftsproblemen in Osteuropa auf, sondern stellt auch den Choreographen dieser Fabelproduktion, Christian Spuck, regelmäßig vor neue Aufgaben. Denn: Besonders komplex ist Tolstois Literatur zwar selten, durch ihre oft unüberschaubare Länge und ihre schier endlose Auswahl an verflochtenen Handlungssträngen als Bühnenspielumsetzung aber sehr herausfordernd.

Im Wesentlichen handelt „Anna Karenina“ zwar nur von einer Frau, die zwischen zwei Männern hin- und hergerissen scheint, unzählige russische Familienclans und Nebenprotagonisten vernebeln die Hauptgeschichte aber in einem Ausmaß, das bei einer Ballettaufführung schnell chaotische Züge anzunehmen droht. Das mag für den ein oder anderen Opernbesucher schnell überfordernd wirken, sollte aber bei genauer Reflexion wenig verwundern: Denn dass ein über 1000 Seiten starker Roman – als 100 minütiges Handlungsballett reduziert – eine semantische Dichte von besonderer Dichte und Struktur vorzuweisen hat, scheint unumgänglich.

Christian Spucks Choreographie ist auch an diesem Abend sichtbar um Ordnung bemüht. Einige Fragezeichen sind aber aufgrund jener Prämissen wohl unvermeidbar. Trotz eines ausführlichen Programmbuchs mit auffallend ansprechenden Hintergrundinformationen und Handlungserklärungen bleibt Tolstois vertanzte „Anna Karenina“ auch diesmal ein wenig unübersichtlich. Das ist schade, aber realistisch wohl unvermeidbar. Viele Protagonisten werden in einer Art „Zeitraffer“ behandelt, dem wohl nur die Besucher folgen können, die sich entweder zuvor ausführlich mit Tolstois Roman beschäftigt haben oder schon einmal eine „Anna Karenina“ auf der Ballettbühne bestaunen durften.

Durch hektisches Bühnentreiben geht ästhetisch einiges an Tiefenschärfe verloren. Und damit eine „Paradedisziplin“ Spucks, die im so anspruchsvollen Zürich sonst regelmäßig großes Aufsehen erregt. Alles wirkt ein wenig überstürzt, undurchsichtig und aufgebracht – trotz einer tänzerisch durchweg herausragenden Leistung.

Ksenia Ryzhkova schmettert auch diesmal eine Titelheldin aufs Parkett, die sich trotz emotionaler Aufgewühltheit immer wieder als Ruhepol im chaotischen Bühnentreiben hervortun sollte. Mit leicht dahingleitenden Drehungen, durchzogen von präzise artikulierten Trippelschritten, schwingt sie sich hier und da in schwindelerregende Höhen auf. Drehung, Seitschritt, Drehung: Das, was Ryzhkova auch an diesem Abend wieder tanzt, scheint beinahe von einem anderen Stern zu sein! Hier eine kleine Phrasierung, dort ein fein geschwungener Bogen: Ryzhkova ist nicht erst seit kurzem für besondere Ballettmomente in München bekannt, diese „Anna Karenina“ scheint sie dennoch immer mehr zu ihrer Paraderolle zu machen. Fabelhaft!

Da ist es umso erfreulicher, dass Kareninas Geliebter, Graf Alexej Wronski, in gleichem Maße überzeugen kann. Dies ist vor allem deshalb besonders hervorzuheben, hatte in jener Rolle bei der letzten „Anna Karenina“, die ich in München erleben durfte, noch Matthew Golding außerordentlich brilliert. Jonah Cook stand seinem kanadischen Kollegen da in nichts nach: Mit famoser Körperspannung, anmutig eleganter Ausstrahlung und unfassbar genauer Präzision gibt Cook einen Grafen zum besten, der aufregender kaum sein könnte. Auf einer seidenmatten Wendeltreppe scheint er sich kreisend gen Himmel zu bewegen. Immer wieder erweckt es da den Eindruck, dieser Jonah Cook hätte die Gesetze der Schwerkraft längst hinter sich gelassen. Beinahe schwebend scheint er langsam im Münchner Nachthimmel davonzugleiten. Ja, in Cooks Performance sind wahrlich alle Elemente eines herausragenden Balletttanzes gleichermaßen vereint.

Als sich Anna Karenina und Graf Alexej zum ersten Mal begegnen, ist es nicht nur um sie, sondern auch um das Münchner Publikum geschehen: Mit brennend feuriger Seele und einem Hauch von Erotik macht sich in der Bayerischen Staatsoper eine Atmosphäre von temperamentvoller Leidenschaft breit, die man sonst in München aktuell wohl eher im musikalisch furiosen „Parsifal“ vermuten würde. Mein lieber Freund, sind diese Tänzer gut!

Ähnlich souverän geben sich Emilio Pavan als Ehegatte Alexej, nach dessen Liebe sich Anna Karenina so sehnt und immer wieder abgewiesen wird, die in dieser Rolle ohnehin stets herausragend agierende Laurretta Summerscales als Kitty, die sich nach der Zurückweisung durch den Grafen immer weiter zurückzieht und in sich kehrt, und die verzweifelt um ihre Ehe kämpfende Dolly (Elvina Ibraimova). Dass bei einem derart hochklassigen Besetzungszettel eigentlich nur tänzerische Weltklasse zu erwarten ist, mag sicherlich stimmen. Einen in sich gekehrten und manisch-verzweifelten Balletttanz aber in so herausragender Synchronität zu einer Einheit verschmelzen zu lassen, erfordert nicht nur tänzerisch herausragende Klasse, sondern auch ein hohes Maß an Emotionalität und Leidenschaft. Bravo!

Musikalisch ist diese „Anna Karenina“ auch diesmal wieder ein Genuss. Und da muss man für den litauischen Dirigenten Robertas Servenikas wirklich einmal eine Lanze brechen: Seit Jahren überzeugt das Bayerische Staatsballett durch herausragende tänzerische Klasse und nicht durch vorzügliche musikalische Darbietungen. Diese „Anna Karenina“ ist die erste Münchner Ballettproduktion seit Jahren, in der Tänzer und Musiker auf gleichem Niveau agieren. Das ist sicherlich nicht alleinig Servenikas’ Verdienst. Dass ein dynamischer Dirigent an einer derartigen Leistungsexplosion aber freilich großen Anteil hat, dürfte nachvollziehbar sein. Servenikas scheint Sergej Rachmaninov und Witold Lutoslawski nicht nur gleichermaßen, sondern auch ihre musikalische Verbindung zueinander verstanden zu haben. Mit beeindruckendem musikalischem Fingerspitzengefühl sorgt das Bayerische Staatsorchester an diesem Abend für eine musikalische Atmosphäre, die vor Explosivität und Flammen zu sprühen scheint: Immer wieder glimmen leuchtend grelle Funken auf, die in kurvigfreudigem Lichtflug zu Boden segeln. Servenikas’ Interpretation von Rachmaninovs und Lutoslawskis musikalischem Feuerwerk ist von sagenumwobenem Glanz umhüllt. Ja, ein Spinnennetz aus glühenden Fäden scheint sich da mit fortlaufender Dauer immer dichter über den Orchestergraben zu legen. Faszinierende Contrapuncti sorgen im Wechsel mit herrlich dahinfließenden Passagen für ein Klangerlebnis, das sich von verträumter Hochromantik bis hin zu tapetenrauer Moderne zu ziehen scheint; und das ganz ohne Brüche und ohne Stufen! Chapeau, Herr Servenikas, das ist wirklich ganz ganz große Klasse!

Christian Spuck darf man an diesem Abend für seine choreographisch-dramatische Oberflächlichkeit sicherlich kritisieren, die Tänzer und das Bayerische Staatsorchester samt diesem herausragenden Dirigenten sicherlich nicht. Für Augen und Ohren ist dieser Abend wahrlich ein Hochgenuss!

Raphael Eckardt, 1. Juli 2018, für
klassik-begeistert.de

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