Anna Netrebko singt sich in der Wiener Staatsoper mit russischen Liedern in den Himmel

Anna Netrebko, Sopran, Pavel Nebolsin, Klavier  Wiener Staatsoper, 19. Oktober 2023

Foto © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Ergreifendere Töne der Resignation und Klage habe ich noch nicht gehört… Der „Traum einer Sommernacht“, ein erotischer Traum eines jungen Mädchens, überwältigte mich mit der Intensität und Wahrhaftigkeit der Interpretation… Ein wahrhaft großer Abend mit einer großen Diva.

Anna Netrebko, Sopran
Pavel Nebolsin, Klavier

Wiener Staatsoper, 19. Oktober 2023

von Dr. Rudi Frühwirth (Text) und Andreas Schmidt (Fotos)

Anna Netrebko hat in der Wiener Staatsoper das Publikum in ein mir – und vermutlich vielen anderen auch – nur wenig bekanntes Land geführt: das russische Liedschaffen der Romantik. Und kann es für eine solche Reise eine bessere Führerin geben als Anna Netrebko? Die Antwort ist klar: Nein, natürlich nicht.


Wenn Netrebko einen Liederabend gibt, dann ist das kein gewöhnlicher Liederabend. Nein, das ist ein Gesamtkunstwerk aus Gesang und Bühnenmagie. Netrebko macht auch noch aus dem bescheidensten Lied eine kleine Opernszene, sie kann ihr Theatertemperament auch vor dem dezent beleuchteten roten Samtvorhang nicht zügeln. Sie wandert über die Bühne, umkreist das Klavier, scheut sich auch nicht, dem Zuschauerraum kurz den Rücken zuzuwenden.

Anna Netrebko © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

All das wäre verlorene Liebesmüh, wäre da nicht ihre Stimme, die das Publikum unweigerlich in Bann schlägt. In allen Registern durchschlagskräftig, mit einer satten warmen Tiefe, einer ausdrucksvollen Mittellage und strahlenden Spitzentönen, die beiden ersten beiden Liedern etwas forciert klangen. Die Liedertexte standen dem Publikum in einer schönen deutschen Übersetzung zur Verfügung. So konnten auch die der russischen Sprache Unkundigen mitverfolgen, wie die Sängerin den feinsten emotionalen Schwingungen musikalischen und darstellerischen Ausdruck zu verleihen wusste.

Die erste Station der Reise war ein Einblick in das Lied- und Opernschaffen von Nikolai Rimski-Korsakow. Netrebko präsentierte sich in einem brillanten weißen, frühlingshaften Kleid, geziert von Sonnenblumen. Sie begann mit elegischen, zarten Liedern, die um die Themen der Liebe, der Nachtigall und der Rose kreisten. Es folgten zwei Auszüge aus Opern des Komponisten, die deutlich höhere Anforderungen an die Sängerin stellen, ja sogar Koloraturpassagen verlangen. Hier war Netrebko ganz in ihrem Element, hier konnte sie mit ihrer hinreißenden Bühnenpräsenz den Szenen vollendeten Ausdruck geben. Der erste Teil schloss mit zwei längeren Liedern aus op. 56, der „Nymphe“ und dem „Traum einer Sommernacht“. Das letztere, ein erotischer Traum eines jungen Mädchens, überwältigte mich mit der Intensität und Wahrhaftigkeit der Interpretation.

Nach der Pause erschien Netrebko in einem wunderschönen lilafarbenen Kleid mit schwarz-grauen Sprengseln, das perfekt zum noch emotionaler gefärbten Inhalt des zweiten Teils passte. Die zweite Station der Reise waren vier Lieder von Sergei Rachmaninow. Auch sie kreisten um die Liebe und um die Natur. Die letzte Station endlich war eine Auswahl aus dem Werk von Piotr Iljitsch Tschaikowski. Der „Vorfrühling“ ist ein Hymnus an die Natur, an die Birkenwälder, in der eine junge Liebe erblüht und wieder vergangen ist.

Anna Netrebko © Wiener Staatsoper /  Michael Pöhn

In der „Serenade“ zeigte Netrebko, dass sie auch das Schelmische, Komödiantische beherrscht. Ganz besonders berührt hat mich das Lied „War ich nicht ein Grashalm auf dem Feld?“. Hier besingt ein junges Mädchen ihr Schicksal, ihre erzwungene Heirat mit einem grauen alten Mann, den sie nicht liebt. Ergreifendere  Töne der Resignation und Klage habe ich noch nicht gehört. Das Programm schloss mit einem hinreißenden Lobgesang „Ob der Tag regiert“ an die geliebte Person. Das Lied endet mit einem virtuosen Nachspiel am Klavier. Netrebko zog sich auf die Seite der Bühne zurück, um dem Pianisten Pavel Nebolsin endlich die volle Aufmerksamkeit des Publikums zukommen zu lassen, die er sich mit seiner einfühlsamen, makellosen Begleitung redlich verdient hatte. Diese Geste fand ich einfach bezaubernd.

 

Der tosende Applaus des Publikums, durchdrungen von unermüdlichen Bravorufern, konnte Netrebko leider nur zu einer einzigen Zugabe bewegen. In dieser zog sie allerdings nochmals alle Register ihres Könnens. Ein wahrhaft großer Abend mit einer großen Diva.

Dr. Rudi Frühwirth, 20. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Giuseppe Verdi, La Traviata (konzertant), Anna Netrebko, Yusif Eyvazov, Étienne Dupuis, Wiener Konzerthaus, 6. September 2023

Macbeth, Oper von Giuseppe Verdi Staatsoper Unter den Linden, 17. September 2023

Anna Netrebko (Sopran) und Malcom Martineau (Klavier), Musikverein Graz, Stefaninensaal, 11. November 2018

Giuseppe Verdi, Aida Arena di Verona Opera Festival, 16. Juli 2023

4 Gedanken zu „Anna Netrebko, Sopran, Pavel Nebolsin, Klavier
Wiener Staatsoper, 19. Oktober 2023“

  1. Sie ist eine wahre Künstlerin. Man muss sie einfach mögen. Noch dazu ist sie unverwechselbar, intelligent, bodenständig, liebreizend, herzerwärmend einmalig in allem, was sie tut und verkörpert. Eine traumhafte Stimme, die unverwechselbar klingt. Ich mag sie von ganzem Herzen. Sie ist wunderschön. Eine einmalige Diva, eine traumhaft liebenswerte Persönlichkeit. Es ist schön, dass es sie gibt! Danke, liebe Anna Netrebko.

    Christina Weiser

    1. Sehr schade, dass ich nicht dabei war. Anna Netrebko hat mich immer wieder zu Tränen gerührt.
      Ich wünsche ihr das Allerbeste. Vielleicht könnte ich erfahren, wann wieder so ein Liederabend wo stattfindet. Bin 75. Hoffe sehr, so ein wunderbares Erlebnis noch erleben zu dürfen.

      Liebe Grüsse,
      Ulrike Postl

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