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Antonín Dvořák – Konzert für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104 B 191 (1894–95)
Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9 D-Dur (1909)
Gautier Capuçon Violoncello
WDR Sinfonieorchester Köln
Jukka-Pekka Saraste Dirigent
Kölner Philharmonie, 9. Juni 2017
Von Daniel Janz
Es ist ein schweres Programm, mit dem das WDR Sinfonieorchester an diesem Abend in seinen Stammspielort lockt. Auf dem Plan stehen zwei Werke, die in der Umsetzung verschiedener kaum sein könnten und doch in der Thematik ein- und dasselbe ansprechen. Das Cellokonzert in h-Moll von Antonin Dvorák, in dem der Komponist Abschied von seiner Jugendliebe nahm – und die auch als Abschieds-Symphonie bekannte 9. Symphonie von Gustav Mahler. Das verspricht ein hoch bewegender und zerreißender Abend zu werden – sowohl für das Stammorchester in Köln als auch für das Publikum.
Die ersten Töne des Cellokonzerts überzeugen. Der finnische Chefdirigent Jukka-Pekka Saraste treibt sein Orchester zu einer aufwühlend mitreißenden Einleitung. Ähnliches hat man unter ihm in Köln bereits zu anderen Werken erlebt. Die Dynamik und Präzision, mit der Saraste das Ensemble ansteckt, erinnern an die großartigen Aufführungen von Anton Bruckners 5. zum Saisonauftakt oder Gustav Mahlers 3. Symphonie der letzten Saison. Ein gutes Omen! Im Tutti weisen die Musiker genau dieser Dramatik eines schweren Abschieds den Weg. Obwohl sie in diesem Abschnitt motivisch keine dominante Rolle spielt, präsentiert sich besonders die erste Klarinette als inspirierende Richtungsweiserin.
Kaum in den Vordergrund drängt der französische Solo-Cellist Gautier Capuçon, der das erste Werk dieses Abends prägen soll. Das liegt nicht nur daran, dass er gefühlt eine kleine Ewigkeit bis zu seinem Einsatz warten muss – so sehr ist man als Zuhörer in diese Welt versunken, die das Aufgebot seiner Musikerkollegen ausbreitet. Auch fällt sein erster Einsatz kaum auf – Capuçon fällt es schwer, sich gegen das sehr gut eingestimmte Sinfonieorchester durchzusetzen. Dadurch leidet die zuvor aufgebrachte Dramatik und mit ihr der Ausdruck.
Besonders deutlich ist dieses Problem im Verlauf des ersten Satzes, der vor allem durch die Ausbrüche des Orchesters bestimmt wird. Diese sind klar und prägnant, ja regelrecht bestimmend. Gleichzeitig decken sie das Spiel des Solisten mit ihrer Klangfülle derart ein, dass es immer wieder unterzugehen droht. Capuçons Blick wandert oft zu seinen Musiker-Kollegen, als wäre es ein Versuch, sich mit ihnen abzustimmen, oder sich ihrer Wucht mit noch mehr Energie entgegenzustemmen.
Dabei kann man weder ihm noch dem Orchester ein schlechtes Spiel vorwerfen, denn technisch ist es tadellos, was die Musiker mit diesem Werk präsentieren. Gerade auch die Ausbrüche im Tutti, aber auch die verstreuten Soli wissen zu begeistern. Was fehlt sind die Akzente, die der Solist durch seine individuelle Prägung geben könnte. Er überzeugt als Techniker mit Klasse, aber nicht als Künstler. Stattdessen arbeitet Capuçon sich an diesem Werk in einem enormen Kraftaufwand ab; am Ende des Satzes sackt er ermattet in sich zusammen.
Wirkungsvoller ist dann der zweite Satz. Dvorák komponierte diesen als Reaktion auf den Tod seiner Schwägerin, mit der ihn eine unerfüllte Liebe verband. Dazu lässt er ein Lied zitieren, das er ihr einst gewidmet hatte.
Eingeleitet wird der Satz von einem ruhigen Wechselspiel der Holzbläser, unter denen erneut die Klarinette positiv hervorsticht, und dem Solisten selber. Ein besonders harter Kontrast erfolgt unmittelbar durch einen in seiner Dramatik schon fast übersteigerten Orchestereinwurf, der genau diese Todesnachricht charakterisieren soll. Ein klasse Effekt, den Jukka-Pekka Saraste bis zur Vollendung zelebrieren lässt. Diesem Nachdruck kann man sich als Hörer nicht entziehen. Dadurch ergreift auch das anschließende Liedzitat durch den Solisten.
An dieser Stelle wirkt die Aufführung allerdings bereits wie ein Orchesterwerk mit Cello und nicht wie ein Solokonzert. Dem hohen Anspruch, dem Werk als Künstler eine persönlichen Note – insbesondere im Hinblick auf das Thema Abschied – zu verleihen, wird der französische Cellist nicht gerecht. Zu technisch perfektioniert und zu energisch vollzieht er sein Spiel die gesamte Aufführung hinweg. Dadurch gehen die Kapazitäten und das Feingefühl verloren, mit denen er dem Werk einen besonderen Ausdruck hätte verleihen können.
Daran ändert auch der bewusst voranschreitende, fast schon marschartige dritte Satz nichts mehr. Die Einleitung durch das Orchester ist erneut effektiv und ausdrucksstark wie schon die Einwürfe im ersten und zweiten Satz. Die Passagen des Solocellos sind stattdessen aus dem Effeff heruntergespielt. Schade: dieser Satz hätte so viel Potenzial für den Solisten, noch einmal so richtig zu glänzen. Die Solokadenz und das erneute Liedzitat sind nur zwei Gelegenheiten, an denen man das Thema des Abschieds hätte vergegenwärtigen können. All diese Abschnitte werden von Capuçon auch gespielt, aber nicht deutlich akzentuiert – das Liedzitat bleibt dadurch am Ende gar unerkannt.
Das Publikum versieht diese technisch gute Leistung mit Applaus. Und an diese Leistung möchte Capuçon in einer kleinen Zugabe, in die er noch sechs weitere Cellisten aus dem Orchester einbindet, anknüpfen. Ergreifen oder einen tiefen Ausdruck vermitteln kann er auch hier nicht. Dem Zuhörer bleibt das Gefühl, als hätte man gerade miterlebt, wie ein großes Talent seine Chancen nicht konsequent ausgenutzt hat. Schade, denn das, was einfach „nur“ gut war, hätte mit etwas mehr Gefühl sogar Weltklasse sein können!
Mahlers 9. Sinfonie beginnt im Kontrast zum Cellokonzert mit sehr leisen Tönen. Wie aus dem Nichts entstehen zum fahlen Rhythmus der Celli kaum merkliche Figuren, die sich erst im Verlauf des Satzes als Motive offenbaren. Es glänzt das erste Horn, das in dieser Phase durch seine eindrucksvoll gespielten Motivfetzen das ganze Orchester zusammenhält.
Der ruhigen Einleitung folgen aufgebaut auf einem wehmütigen Trompetenmotiv immer wieder Ausbrüche des Orchesters, die jedoch nicht ausgeführt werden, sondern in sich zusammenbrechen. Vor dem inneren Auge baut sich der Komponist auf, der mit aller Kraft versucht, dem drohenden Schicksal durch seine Herzerkrankung zu entkommen, daran aber stets scheitert. Jukka-Pekka Saraste lässt den Satz schneller spielen, als man es sonst gewohnt ist. Unter seiner Leitung kämpfen sich die Musiker regelrecht zu den Höhepunkten hervor, die ihnen dann aber vom Komponisten verwehrt bleiben. Das tut besonders den dynamischen Stellen gut. In den ruhigen Passagen entsteht stattdessen unpassende Hektik. Hier wünscht man sich auch einmal einen Moment der Besinnung.
Durch diese Hektik leidet ausgerechnet der Höhepunkt des ersten Satzes. Der Tamtamschlag, auf den das sukzessive Wegbrechen der Musik folgen soll, verkommt unter dieser Unruhe zu einem matten, schnell vergessenen Grollen, das nicht die zerstörerische Wirkung entfaltet, die man normalerweise von diesem Instrument kennt und erwartet. Da hilft auch der enorm körperliche Einsatz der Pauken nicht mehr. Das anschließende Wechselspiel zwischen Glocken und gedämpften Trompeten wirkt regelrecht gehetzt, man sieht den Musikern an, wie sehr sie dem Taktstab hinterher hechten.
Dieses hohe Tempo, das dem ersten Satz stellenweise nicht gut tut, belebt den zweiten Satz stattdessen umso mehr. Fagott und Klarinetten prägen den Beginn mit einem intim tänzerischen Motiv. Die Streicher antworten ihrerseits, indem sie von kraftvoll glänzenden Einwürfen des Horns begleitet einen derbe betonten Ländler etablieren. Berauscht durch Staccati der Blechbläser münden sie schließlich in einen manischen Walzer. Sie musizieren einen dermaßen starken Dreivierteltakt, dass sicher einige im Publikum aufspringen und sich um ihre Besinnung tanzen möchten. Der finnische Dirigent tut gut daran, sich im wahnhaften Rausch dieses grotesken Totentanzes teilweise ganz herauszunehmen und sein Orchester einfach spielen zu lassen.
In diesem Satz zeigt sich einmal mehr die kompositorische Genialität Mahlers. So mitreißend hat man seine Musik nur bei den besten Aufführungen erlebt. Obwohl die Motive kompositorisch bis ins Unerkenntliche verzerrt werden, bleiben sie dank detaillierter Herausarbeitung des Orchesters allgegenwärtig. Als Zuhörer verliert man sich regelrecht in diesem Rausch der Klänge und entdeckt stets wieder Dinge, die bereits bekannt wirken. Die Musiker zelebrieren dies bis zur höchsten Ekstase, indem sie sich mit ganzem Körpereinsatz in jede einzelne Note hineinwerfen.
Auf die Spitze treibt das Ensemble diese Entwicklung im dritten Satz. Hier ist das Hauptmotiv der Trompete nicht einmal mehr tonal – trotzdem prägt es den gesamten Satz wie ein Stempel. Die hier präsentierten und vom Orchester fabelhaft unterstrichenen Kontraste wirken geradezu erschreckend: Teilweise blanke bis ins Bösartige reichende Schmettertriaden des Hauptmotivs durch die Blechbläser gegen das betont artige, fast schon pedantisch vorgetragene Nebenmotiv der Streicher.
Mitten in diese verzerrte Fratze eines Rondos platzt fast unvermittelt eine Trompetenmelodie wie von einem anderen Stern. Mahler hätte in dieser Symphonie in seiner letzten Offenbarung zu Gott selber geschaut, mutmaßte einst der Musikwissenschaftler Paul Bekker. Jukka-Pekka-Saraste versteht es, seine Musiker hier zu solch einer Verklärung zu drängen, als wolle er genau diesen Eindruck bestätigen. Endlich kehrt nun auch die Ruhe ein, die dem ersten Satz gefehlt hat.
Beseelt von Wehmut und dem Bestreben, sich zu neuer Größe zu erheben, strebt das Orchester wie schon im ersten Satz einen neuen Höhepunkt an. Und genau wie im ersten Satz wird den Musikerin dieser erneut verwehrt; die Musik ebbt stattdessen so sehr ab, dass man kaum noch einen Ton wahrnimmt. Genau diese Besinnung hat man im ersten Satz vermisst. Damit nimmt dieser dritte Satz gleich dem späteren Finale bereits das Hauptthema vorweg und erinnert noch einmal an den Schmerz, den jeder Abschied bereitet.
Dieser Moment der Stille wird auf brutalst mögliche Weise vom Schmettern der Posaunen regelrecht zerfetzt. Erneut kehrt das Hauptmotiv zurück und stürzt sich ins Chaos, als würde man den Komponisten selber in tiefster Verzweiflung laut fluchen hören. Alles wird noch einmal aufgeboten: das Becken kracht, das Glockenspiel tanzt sich um die Besinnung, Pauken und große Trommel donnern das Orchester regelrecht zusammen, selbst ein Trommelwirbel erschüttert bis ins Mark. Laut knallend findet dieser tödliche Tanz schließlich sein Ende – er bricht einfach im tosenden Schmettern ab ohne eine Coda zu erleben.
Was dann kommt, könnte von der Dramatik extremer nicht sein. Nur die Geigen setzen ein und ziehen das neue Motiv, die Hauptmelodie des vierten Satzes, so sehr in die Länge, dass den Zuhörern das Herz stehen bleibt. Der finnische Dirigent erlebt hier seine Sternstunde. Endlich nötigt er sein Orchester so sehr zur Zurückhaltung, dass die Thematik des Abschieds nun unverkennbar ist. Geradezu erschütternd quält er sein Orchester dazu, jeden Ton noch etwas länger auszuhalten, ihn noch tiefer und eindringlicher zu intonieren. Weltklasse!
Dieser Abschiedssatz ist auch deswegen so effektiv, weil er immer wieder in gänzliche Stille abebbt. Dem quälenden Aufstreben, noch einmal eine Melodie zu vollenden, folgen immer wieder Phasen eisiger Leere. Noch einmal glänzt das erste Horn, das dieses Streben mit wehmütigen Klängen vollständig fassen kann. Im Kontrast dazu stehen die Geigen, die einsam klagend ihren Abgesang in neuen Sphären erhöhen.
Auf dem Höhepunkt der abgeschiedenen Melancholie stemmt sich das Orchester noch einmal auf. Einem traumhaft schön vorgetragenen Intermezzo von der auf Weltklasse spielenden Klarinette, Flöte und Oboe zu den wiegenden Klängen der Harfe, folgt ein letztes Tutti, das jäh von Becken und Trommel zerrissen wird. Der nachfolgende, zweite Ausbruch erreicht diese Intensität nicht mehr. Stattdessen stirbt die Musik in sich selber ab. Der Schluss ist so leise, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
Als Stille und Abgesang der Streicher ineinander übergehen, stockt einem der Atmen. Kein einziger wagt es, seine Hand zum Klatschen zu erheben – jeder weiß in diesem Moment genau, welch unbeschreiblich große Sünde er damit begehen würde, dieses Schweigen zu stören. Eine kleine Ewigkeit breitet sich im Raum aus, bis dann schließlich doch der erste Zuhörer verhalten einmal seine Hände zusammenklatscht. Es folgt jubelnder Beifall mit Standing Ovations. In ihrer Interpretation von Mahlers 9. Symphonie hat das WDR Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste erneut bewiesen, dass es so einer schweren Thematik gewachsen ist und unter den ganz großen Klangkörpern mitspielen kann.
Daniel Janz, 11. Juni 2017, für
klassik-begeistert.de