Solisten, Leiterin, Chor und Orchester Foto Andreas Ströbl
Antonín Dvořák
Stabat Mater für Soli, Chor und Orchester op. 58
Dom zu Lübeck, 16. November 2024
Virginia Ferentschik, Sopran
Frederike Schulten, Mezzosopran
Noah Schaul, Tenor
Jacob Scharfman, Bariton
Jakobi- und Domchor
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Ulrike Gast, Leitung
von Dr. Andreas Ströbl
Das Schlimmste, was Eltern zustoßen kann, ist ein Kind zu verlieren. Antonín Dvořák und seine Ehefrau Anna erlitten gleich dreimal dieses schlimme Schicksal, denn 1876 starb die kleine Josefa, Ružena und Otakar folgten ihr ein Jahr später. Damit waren die Eltern zunächst alleine, erst später bekamen sie erneut Nachwuchs.
Grund genug, um depressiv zu werden – oder, wie es einem Vollblutkünstler entspricht, sich mit dem entsetzlichen Geschehen bei aller Trauer schöpferisch auseinanderzusetzen. Was liegt da näher, als die Klage einer Mutter um ihren toten Sohn aufzunehmen und die als „Stabat Mater“ zum musikalischen Topos gewordene Trauer Mariens um den hingerichteten Jesus als Ausdruck der eigenen Totenklage in einer Komposition zu verarbeiten? Der Begriff des „Verarbeitens“ darf hier im doppelten Wortsinne verstanden werden, denn das schöpferische Tun hat hier durchaus psychotherapeutischen Charakter.
Entstanden ist ein hochemotionales Werk voll klarer Schönheit, durchdrungen von aufrichtigem Glauben und der Hoffnung darauf, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Beeindruckend ist die Struktur der zehnteiligen Komposition, denn natürlich bezieht sich auch dieses „Stabat Mater“ mit dem Text aus dem 13. Jahrhundert auf die „Sieben Schmerzen Mariens”, aber schon durch die Wiederaufnahme des Eingangssatz-Themas im Finalteil entsteht eine musikalische Geschlossenheit; zudem wechseln dramatisch-klagende Abschnitte mit Sequenzen von fast tänzerischer Leichtigkeit ab, was dem Ganzen eine spannungsreiche Dynamik verleiht.
In der berückend anmutigen Melodik hört man immer wieder Dvořáks typisch volksmusikalische Elemente durch, wie man sie beispielsweise von „Aus Böhmens Hain und Flur” kennt. Eine breit angelegte Orchestrierung und der vielstimmige Chor lassen – auch in der Tonsprache – zuweilen an die Requien von Brahms oder Fauré denken, aber angesichts des sakralen Hintergrundes hat dieses „Stabat Mater“ doch etwas ausgesprochen Opernhaftes. Wenn nun assoziativ die Namen Verdi und Wagner fallen, dann ist das auch schon genug, denn dieses Werk hätte in seinem Ideenreichtum und der, bei allen musikalischen Überraschungen, harmonischen Ausgewogenheit von Motivik, Rhythmik und Arrangement eben niemand anderes schaffen können als Dvořák.
Einzigartig ist zum Beispiel die Verwendung spannungsreicher Septim- oder Quart-Sprünge, die dann wieder eine schmiegsame Chromatik ablöst. Einer zuweilen barocken Lebhaftigkeit hat der Komponist spätromantische Schwere an die Seite gestellt – und all das ist zu wundervoller Einheit gefügt.
Im Lübecker Dom erklang diese beeindruckende Tonschöpfung am 16. November 2024 schlichtweg makellos. Wer die örtliche Akustik kennt, weiß, dass der tückische Hall die im Westchor gesungenen oder gespielten Töne gefühlt erst mehrere Sekunden später im Ostchor ankommen lässt. Die Solisten, der Jakobi- und Domchor und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Ulrike Gast gaben dieses „Stabat Mater“ dynamisch und vom Tempo her wundervoll ausgewogen wieder; da wurde nichts überlagert oder klang gar verzögert. Die Leiterin hatte mit sympathischer Souveränität und unprätentiöser Präsenz den umfangreichen Klangkörper von der ersten bis zur letzten Note im Griff.
Der starke Chor, zumal in den Sopranstimmen, vermittelte in meisterhafter Synchronizität, den exakten Einsätzen und stimmlicher Kraft all die Empfindungen und Entwicklungen des emotional aufgeladenen Geschehens.
Die Sopranpartie übernahm Virginia Ferentschik, die bereits mehrfach in Lübeck zu erleben war. Ihrer hellen, mühelos durch das Orchester dringenden Stimme stand Mezzosopranistin Frederike Schulten aus dem Lübecker Ensemble harmonisch gegenüber; eigentlich ist dies ja eine Alt-Partie. Die Sängerin, die oft mädchenhafte Rollen übernimmt, beeindruckte an diesem Abend mit weiblich-warmer Stimmfülle und mitreißendem Gefühlsausdruck.
Die beiden Solo-Männerstimmen wurden ebenfalls durch Ensemblemitglieder besetzt; Noah Schauls Tenor erreichte in luzider Klarheit den letzten Winkel des altehrwürdigen Doms; seine Stimme bestach sowohl durch Strahlkraft als auch Stärke. Bariton Jacob Scharfman bewies erneut seinen Stimmumfang, denn auch die tief komponierten Partien erreichte er mühelos mit viriler Stärke und der ihm eigenen Eleganz. In den Duetten und Quartetten waren die vier so unterschiedlichen Stimmen in selbstverständlicher Ausgewogenheit zu hören, allesamt im Dienst der Musik und ihrer so ernsten und doch hoffnungsvollen Botschaft.
Bei der angesprochenen heiklen Akustik ist ein so brillantes Textverständnis, wie es sowohl den vier Solisten als auch dem Chor zu bescheinigen ist, nicht selbstverständlich. Man brauchte bei dem lateinischen Text, der in wundervoll eleganter italienischer Aussprache erklang, kaum ins Programmheft zu sehen.
Wer ungefähr zwischen Reihe 7 und 14 auf der linken Seite saß, hatte die Madonna mit dem Jesuskind am nordwestlichen Jochpfeiler im Blick. In ihrem Gesicht mit den etwas müden Augen ist weniger mütterliche Freude über das Neugeborene zu lesen, als vielmehr eine traurige Vorahnung auf das, was ihr Leben dereinst erschüttern würde. Auf jedem, o so fröhlichen Weihnachtsfest lastet bereits der Schatten des Karfreitags. Und dessen Dunkelheit wird durchbrochen vom Licht des Osterfestes. Dessen Auferstehungshoffnung strahlt aus dem Finalsatz mit seinem beschließenden „Amen“ in sanft entschwebendem, optimistischem D-Dur.
Langanhaltender, herzlich-begeisterter Beifall galt allen Mitwirkenden und ihren durchweg ausgezeichneten Leistungen.
Dr. Andreas Ströbl, 17. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Antonín Dvořák, Stabat mater op.58 Philharmonie Berlin, 12. Oktober 2023
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