Bestechend in Wut und Wildheit die Männer von NDR Vokalensemble, MDR-Rundfunkchor und Rundfunkchor Berlin als untote Mannen und im Schlussgesang zusammen mit den zugehörigen Damen ergreifend schön!
Opening Night: NDR Elbphilharmonie Orchester / Alan Gilbert © Sophie Wolter
Arnold Schönberg, Gurre-Lieder für Soli, Chöre und Orchester
Alan Gilbert, Dirigent
Simon O’Neill, Tenor
Christina Nilsson, Tenor
Jamie Barton, Mezzosopran
Michael Nagy, Bariton
Michel Schade, Tenor
Thomas Quasthoff, Sprecher
MDR-Rundfunkchor, Rundfunkchor Berlin und NDR Vokalensemble
NDR Elbphilharmonie-Orchester
Elbphilharmonie, Großer Saal, 11. September 2024
von Dr. Regina Ströbl
Arnold Schönberg – einen ganzen Abend lang. Allein der Name hat vermutlich etliche „Ich möchte mir den großen Saal auch mal ansehen-Besucher“ abgeschreckt. Dennoch ließen sich etliche Hörer auf eine Erstbegegnung oder auch ein Wiederhören eines aufgrund der großen Besetzung eher selten gespielten Werkes ein. Und sie wurden in dieser Opening-Night, die mit dem kolossalen Opus den 150. Geburtstag des Erfinders der Zwölfton-Musik gebührend feierte, reichlich belohnt.
Aber was ist das eigentlich – die Gurre-Lieder? Schon in der launig-informativen Einführung durch den Dramaturgen Julius Heile konnte die Frage kaum beantwortet werden. Die Vertonung der Dichtung des Dänen Jens Peter Jacobsen ist weder Oratorium, noch Oper, noch Liederzyklus mit verbindenden Orchesterzwischenspielen. Am Ende ist es, was es ist: Ein einziger Rausch aus Liebe, Tod, Trauer und Erlösung mit einer Musik, die einem den Atem raubt und die spätestens beim hymnischen Schlusschor auch dem Hartgesottensten die Tränen in die Augen treibt. Dieses Werk braucht keine Kategorie, keine Einordnung könnte dieses Universum auch nur annähernd und schon gar nicht komplett erfassen.
Noch ganz in einer spätromantischen Stimmung entstand ein Großteil des Werks 1900 bis 1901 zunächst als Liederzyklus mit Klavierbegleitung, gedacht als Beitrag zum Wettbewerb der Wiener Tonkünstlersozietät. Da seine Lieder aber aufgrund ihrer Neuartigkeit kaum Aussicht auf Erfolg hatten, entschied sich Schönberg, sie nicht einzureichen. Statt dessen komponierte er weiter daran und baute den Zyklus zu einem groß orchestrierten Mammutwerk aus, für dessen Partitur extra 48-zeiliges Notenpapier gedruckt werden musste! Mitten in der Arbeit am dritten Teil brach er jedoch ab und erst 1911, inspiriert von einer Teilaufführung mit transkribierten Klavierstücke zu vier Händen 1910, vollendete er es nun auch in die atonale Richtung weisend.
Ihre Uraufführung erlebten die Gurre-Lieder 1913 in Wien unter der Leitung von Franz Schreker und wurden vom Publikum bejubelt. Schönberg selbst war mit seiner Komposition nicht mehr zufrieden und verbeugte sich nur vor den Musikern, nicht aber vor dem Auditorium. Längst schon hatte er sich mit seinem Schaffen der Atonalität verschrieben, seine frühen Kompositionen galten ihm als veraltet und nicht mehr zeitgemäß.
Im Jahr 1884 geboren, war er noch mit der Tradition von Brahms und Wagner aufgewachsen, erlebte Richard Strauss sowie Gustav Mahler, und immer wieder blitzt in den Gurre-Liedern auch der Einfluss dieser Komponisten auf. Aber nicht nur musikalisch, auch inhaltlich begegnen dem Hörer bekannte Geschichten. Die Handlung ist dabei kurz erzählt: König Waldemar liebt aufrichtig und von Herzen das Mädchen Tove, das in seiner Burg Gurre lebt. Auch sie liebt ihren König, romantisch und schwärmerisch, doch glaubt sie an eine ewige Vereinigung nur im Tod. Nicht ahnend, dass das Schicksal bzw. die rasende Eifersucht der Königin Helvig ihrem Leben alsbald ein Ende machen wird, besingt sie die erstrebenswerte Schönheit des gemeinsamen Todes, „So lass uns die goldene Schale leeren Ihm, dem mächtig verschönenden Tod (…)“. Isolde lässt grüßen. Mit der dramatischen Erzählung der Waldtaube von Toves Tod und Begräbnis endet der erste Teil.
Im kurzen zweiten Teil lässt sich der verzweifelte Waldemar in seiner bodenlosen Trauer zu einer ungeheuren Gotteslästerung hinreißen, die nicht ungestraft bleibt. In einer Mischung aus „Fliegendem Holländer“ und Odins Rauhnächten ist der König mit seinen Mannen im dritten Teil nun zur wilden Jagd, zur allnächtlichen „Ausfahrt der Toten“ verdammt. Hatte Tove noch prophezeit, der Tod sei nur ein kurzer Schlummer, „Und wenn du erwachst: Bei dir auf dem Lager in neuer Schönheit siehst Du strahlend die junge Braut“, so wird der untote König mit seinem Gefolge nun ruhelos durch Raum und Zeit getrieben. Tove aber findet der Todessehnsüchtige nicht. Erlösung und damit auch Vereinigung mit der Geliebten mag es erst mit dem großen Sonnenaufgang am Ende (aller Tage?) geben.
Die Musik zu diesem Drama zeigt alle Gefühle von glücklicher Liebe, unendlicher Trauer und Verzweiflung, Wut und Spott bis zur Hoffnung auf Befreiung von allen Lasten und dem Neubeginn allen Lebens durch die Strahlkraft der Sonne. Geschrieben für fünf Singstimmen, einen Sprecher, drei Chöre und großes Orchester, standen und saßen in der „Elphi“ 285 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne und den Rängen. Alan Gilbert gelang es, alles und alle jederzeit im Griff zu halten. Ganz der Musik verschrieben, mal mit ausgreifenden, das Orchester umarmenden Gesten, mal tanzend, aber niemals in selbstdarstellerischer Pose oder überflüssigem Aktionismus, zauberte er mit dem Orchester diese von zart jugendstilig- flirrend bis berauschend, überbordend, ja ohrenbetäubend gewaltiger Kraft reichende Musik. Schon im zarten Anfang mit Vogelgezwitscher und Harfenklang, acht Flöten und vier Harfen, kündigte sich mit den tiefen Streichern drohend die tragische Entwicklung an. Die Dynamik war den Gefühlen von zart bis verzweifelt immer angepasst, und scheute auch nicht vor einem vielfachen Fortissimo zurück. Trotzdem blieb das Spiel der Musiker durchsichtig, klar, verzaubernd die Soli des ersten Geigers David Radzynski.
Auf diesem Teppich konnten sich die Stimmen der Solisten jedoch nicht immer entfalten. Direkt vor den vier Harfen rechts im Orchester positioniert, drang Simon O’Neill in den Höhen mit Strahlkraft durch, die eher kehlige Tiefe verschwand häufig in den Wogen des Orchesters; da musste man mit dem auf den Rang projizierten Text vorliebnehmen. Im zweiten und dritten Teil hatte er sich ein wenig freier gesungen und steigerte sich auch in Waldemars ohnmächtige Verzweiflung hinein. Die Tove von Christina Nilsson war das träumerische Bauernmädchen, deren Reiz in ihrer naiven Lieblichkeit mit einigen leuchtenden Spitzentönen bestand. Aber auch sie hatte partiell Schwierigkeiten, durchzudringen. Der Standort mitten im Orchester hatte sicher einen Anteil daran. Kein Problem damit hatte hingegen Jamie Barton in ihrer mitreißenden Erzählung der Waldtaube. Bei größter Wortverständlichkeit geriet ihre dramatische Auslegung zu einem der Höhepunkte des Abends. Bruchlos führte sie ihre satte, volle Stimme von der Mittellage nach oben und schmetterte die Höhen in den Saal.
Michael Nagy als von Waldemar und seinen untoten Mannen geplagter Bauer wehrte die wilde Horde mit seinem wohlklingenden Bariton ab. Dem kommentierenden Narren Klaus gab Michael Schade mit kräftiger Stimme und wohldosierter Gestik spöttische Kontur. Als einziger vor dem Orchester sitzend, leitete Thomas Quasthoff als Sprecher mit „Des Sommerwindes wilde Jagd“ zum abschließenden Sonnenaufgang über. Sein Parlando war klar und deutlich, eine stärkere dynamische Feindifferenzierung der überwiegend doch sehr lyrischen Beschreibung der erwachenden Natur wäre allerdings wünschenswert gewesen. Bestechend in Wut und Wildheit die Männer von NDR Vokalensemble, MDR-Rundfunkchor und Rundfunkchor Berlin als untote Mannen und im Schlussgesang zusammen mit den zugehörigen Damen ergreifend schön! Zu Recht wurden sie und ihre Leiter Michael Alber sowie Klaas Stock besonders gefeiert. Großer Jubel und langanhaltender Beifall für alle Beteiligten.
Ein Wort noch zum so oft gescholtenen „Elphi“-Publikum. Wie eingangs erwähnt, hatte der Name Schönberg sicher dafür gesorgt, dass nur wirklich Interessierte kamen, darunter erfreulicherweise auffällig viele junge Leute. Getragene Taschen mit dem Aufdruck „Gustav Mahler Jugendorchester“ ließen auf Musiker bzw. Fachleute schließen. Es herrschte große Konzentration im Saal, kein Handy war zu sehen oder zu hören, selbst das Husten hielt sich in Grenzen. Nur an dem verpeilten Herumlaufen (auf der Suche nach was eigentlich?) und an dem Verlassen des Saales kurz vor Schluss sollte noch gearbeitet werden. Aber man muss das Publikum auch mal loben, also bitte künftig mehr Schönberg spielen!
Dr. Regina Ströbl, 12. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Arnold Schönberg, Gurre-Lieder, Rudolf-Oetker-Halle, Bielefeld
NDR Elbphilharmonie Orchester/Joshua Bell und Alan Gilbert Elbphilharmonie, 3. November 2023