Hier nur von einem Klangteppich zu reden, dies ist ein Klanggobelin!
Elbphilharmonie, 11. September 2024
OPENING NIGHT © Sophie Wolter
Arnold Schönberg
Gurre-Lieder für Soli, Chor und Orchester
NDR Elbphilharmonie Orchester
NDR Vokalensemble
MDR-Rundfunkchor
Rundfunkchor Berlin
Simon O’Neill Waldemar
Christina Nilsson Tove
Jamie Barton Waldtaube
Michael Nagy Bauer
Michael Schade Narr
Thomas Quasthoff Sprecher
Klaas Stok Einstudierung
Dirigent Alan Gilbert
von Harald Nicolas Stazol
Ob Sie es glauben wollen oder nicht: Da erscheint doch gegen 19 Uhr ein wundersam-wundervoller Regenbogen über dem Hafen und taucht das Foyer im Westin Grand in eine Art von goldenem Halo, Aurora lächelt, und so ist der heutige Abend, die von mir soooo lange ersehnte Opening Night, mit einem Werk, dass soooo großer Besetzung bedarf, dass es so gut wie nie aufgeführt wird: Die „Gurre-Lieder“ des Arnold Schönberg. Als ich von diesen in der Vorankündigung lese, denke ich schon, um Gotteswillen, 2 Stunden Zwölfton? Ja ist Alan Gilbert jetzt verrückt geworden? Und ganz gegen meine Pflichtgewohnheit höre ich es NICHT schon vorher, denn – wieder waltet Aurora – was für eine Entdeckung! Welche Vollendung!! Was für eine Offenbarung!!!
Im Aufzug, etwa im 12. Stock, entpuppe ich mich peinlicherweise mit für einen Kritiker völligen Unwissens und jeder Ahnung bar, dies aber Ihnen nur vertraulich, ich bin ja auch nicht der allwissende Erzähler, aber wir sind ja noch nicht ganz bei Thomas Mann: „Das wird doch jetzt sehr elegisch.“ „Das wird GEWALTIG!!!!“ Sie sehen an der Anzahl der Ausrufungszeichen, was sich da zusammenbraut… über dem elegant bevölkerten Foyer liegt eine Spannung, man erwartet Besonderes, „Na, DAS wird schon was werden…“ erlausche ich am Stehtisch, offenbar der ehrwürdige Großvater zum größererwachsenen Enkel, beide in Dunkelblau, ich sehe ein in allen Farbenkaskaden strahlendes Abendkleid, die beiden jungen Sitznachbarn sind in waldgrün – wie passend, das weiß ich nur noch nicht – derart aufeinander abgestimmt, ich sage, „Sie sind das eleganteste Pärchen des Abends“ – er trägt Paisley-Fliege zu passendem Einstecktuch, Respekt, Respekt, nicht wahr, meine Herren? Meinen Faux-pas aber, eine weiße Fliege zum Smoking, wird von meiner Grande Dame im Haus gerade noch verhindert, das ist doch kein Frack?
Und da unten, alle im Frack naturellement, die Musikantinnen in schwarz, stimmt das NDR Elbphilharmonie Orchester in derartigem Volumen schon, ich zähle vier Harfen, acht Kontrabässe, ein Meer an Geigen, ganz rechts erhoben die Kavallerie, wenn man die Hornisten sieht, für die Waldszene – zu ihr gleich, so machtlaut später, dass sich meine Lieblingsharfenistin Annaëlle Touret die Ohren zuhält – lustig, denn immer wenn die vier Harfenistinnen die zarten Zwischenspiele der „Gurre Lieder“ zupfen, höre ich mit allen Ohren hin. Zweimal tobt tatsächlich die Gewalt durch, und urplötzlich Stille, und das so typische Echo unter unserer Kuppel.
Die Handlung im Telegrammstil: König Waldemar – historisch belegt – liebt Tove, hach, Christina Nilsson, – die Königin bringt sie um, der König …verflucht Gott, geistert hoch zu Ross danach mit seinen Zombies durch die Wälder, Apotheose, dermaßen, dass man schon an die Alpensinfonie denken muss.
Es klingt ein wenig nach Wagner, ein wenig nach Mahler, ein wenig nach Strauss, wären da nicht die fünf Solisten, die gegen das 150köpfige Orchester ankommen müssen, wobei Gilbert sie halbrechts inmitten aller aufstellt, von denen der erste, König Waldemar in einem wunderbaren Simon O’Neill aufstrahlt, der aber schwer verständlich ist, „knödelt ein wenig“ kommentiert eine geschätzte Kollegin, die sich auskennt, die Geliebte Tove bricht stimmlich über alles hinweg zu solchen Höhen aus, man bleibt in Bewunderung stumm, ebenso stumm, wie das Haus, das leider nicht vollbesetzt ist.
Die Mezzosopranistin Jamie Barton mit Undercut und Glitzerdecolleté und Funkelarmbändern, ebenso gewaltig wie ihre Fähigkeit, über allem „karamellig“, wie ich notiere, sehr majestätisch alles zu übertönen, ist meine persönliche Entdeckung. Und Thomas Quasthoff als auf das taktvollste dirigierter Sprecher ist für mich ein alter Freund, sah und hörte ich erstmals mit 14 im Konzertverein Ingolstadt mit einer Auswahl von Schubertliedern – zu recht wird ihm schon Respekt bezeugt mit Bravo, als er als erster und einziger seinen Platz einnimmt, direkt dann unter den Augen Alan Gilberts.
„Dieses Werk ist der Schlüssel meiner ganzen Entwicklung. Es zeigt mich von Seiten, von denen ich mich später nicht mehr zeige oder doch von einer anderen Basis. Es erklärt, wie alles später so kommen musste, und das ist für mein Werk enorm wichtig: dass man den Menschen und seine Entwicklung von hier aus verfolgen kann.“ HA, wenn da nicht die Spätromantik auf das Äußerste waltet, waltet doch sogar Mahler auf, und die Wagnerposaunen.
Hier nur von einem Klangteppich zu reden, dies ist ein Klanggobelin!
Und Gilbert? „Dieses Stück ist immer eine Herausforderung, was die Balance und das Wahrnehmen der wichtigen Stimmen angeht, sowohl im Orchester als auch im Gesang.“
Und so können sie gern die weitere Saison den Gobelin weiterweben! Die von Henry VIII kosteten, sechs Jahre vorbestellt, so viel, wie ein Kriegsschiff.
Das Publikum noch auf dem Weg zum Redaktionsschluss über alle Monitore der Philharmonie von Stockwerk zu Stockwerk ganz hanseatisch-untypisch frenetisch.
Und womit? MIT RECHT!
Harald Nicolas Stazol, 12. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at