Foto: Steffi Turre (c)
Rudolf-Oetker-Halle, Bielefeld, 17. Juni 2018
Arnold Schönberg, Gurre-Lieder
von Phillip Schober
Als die Konzertbesucher der Rudolf-Oetker-Halle in Bielefeld an diesem Sonntagvormittag ihre Plätze einnehmen wollten, wurden sie überrascht: Bei dieser Aufführung saßen jene Zuschauer, die sonst ihren Aboplatz mittig in der 11. Reihe innehaben, ganz vorne am Orchester zu Fuße des Dirigenten.
Was war geschehen? Neben Gustav Mahlers „Sinfonie der Tausend“ sind die „Gurre-Lieder“ das am stärksten besetzte Werk der weltweiten Orchesterliteratur, es spielt ein außergewöhnlich großer Orchesterapparat nebst mehreren Chören. Damit sämtliche Musiker und Sänger einen Platz einnehmen konnten, wurde die Bühne der Rudolf-Oetker-Halle eigens für dieses Werk um einige Meter vergrößert. Die ersten zehn Sitzreihen wurden herausgenommen.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts verabschiedete sich Arnold Schönberg mit seinen Gurre-Liedern von der Epoche der Romantik, um gemeinsam mit Alban Berg und Anton Webern in der Zwölftontechnik einen neuen musikalischen Weg einzuschlagen. Es ist erstaunlich, dieses spätromantische Stück ausgerechnet auf dem Spielplan einer Stadt wie Bielefeld vorzufinden. Um alle in der komplexen Partitur aufgeführten Instrumentengruppen adäquat zu besetzen, gingen die Bielefelder Philharmoniker eine Kooperation mit dem Orchester des Staatstheaters Oldenburg ein. Die beiden Aufführungen der Gurre-Lieder benötigten neun Kontrabässe, fünf Oboen sowie einen umfangreichen Streicherapparat.
Leider war die Vorstellung sehr schwach besucht, die Sitzplätze verkauften sich nur etwa zur Hälfte. Schreckt der Name „Arnold Schönberg“ auch heute noch ab? Selbst mancher Kenner der klassischen Musik runzelt mit der Stirn, wenn er oder sie den Namen Schönbergs auf dem Programmzettel entdeckt. Die meisten Zuschauer wissen nicht, dass der revolutionäre Zwölftontechniker in seinen jungen Jahren auch konventionelle Harmonien komponierte.
Die Solosänger wurden aus dem Ensemble Bielefeld und Oldenburg besetzt, mit Ausnahme der umfangreichen Tenorpartie Waldemar – gesungen von Thomas Mohr. Er singt gewöhnlich an mittelgroßen Opernhäusern die Heldentenorrollen der Wagnerliteratur von Siegfried bis zum Parsifal. Die Partie des Waldemar lässt sich mit den Herausforderungen eines Tristans gut vergleichen. Thomas Mohr sang mühelos gegen das große Orchester an und beeindruckte wie kein anderer mit seiner Gesangsleistung. Die Stimme klang insbesondere in der Mittellage äußerst voluminös und schwebte über dem stark besetzen Orchester.
Auch die anderen Solopartien waren an diesem Sonntagvormittag zur vollsten Zufriedenheit des Publikums besetzt. Insbesondere ist die Darstellung von Sarah Kuffner zu loben. Sie sang die „Tove“ in deutlicher Aussprache. Ihre Stimme klang geradezu metallisch, so dass sie die Rolle ideal ausfüllte.
Eine Aufführung der Gurre-Lieder leisten sich normalerweise nur die größten Konzerthäuser der Welt. Die beiden Chöre und Extrachöre der Theater Bielefeld und Oldenburg wurden vereint und vom Chor des städtischen Musikvereines Bielefeld unterstützt, um das Finale in all seinen Farben und in eindrucksvoller Brillanz erklingen zu lassen. In den Gurre-Liedern ist der Chor sehr stark besetzt, singt im Tutti jedoch nur im dritten und letzten Teil des Werks.
Wie lässt sich die Orchesterdarstellung der Gurre-Lieder adäquat beschreiben? „Beeindruckend“, „bombastisch“, „berührend“ sind die ersten Adjektive, an die der Zuhörer denkt. Ein bisschen Wagner und gelegentlich auch ein wenig Mahler lässt sich in der Musik erkennen. Die Akustik der Rudolf-Oetker-Halle trug wesentlich zum Erfolg der Vorstellung bei, selbst in den letzten Reihen hörte man das Orchester noch differenziert und kristallklar musizieren.
Schlussendlich bleibt es den beiden Orchestern unter der Leitung von Hendrik Vestmann zu danken, dass sie vor den Superlativen nicht zurückschreckten, sondern sich der Herausforderung stellten und in technischer Versiertheit bei vollster Konzentration ein Konzert bewerkstelligten, wie es Bielefeld seit Jahren nicht erlebt hat. Mit minutenlangem Applaus, Standing Ovations und Jubelstürmen für alle Musiker bedankte sich das begeisterte Publikum für die herausragende Qualität.
In Bielefeld wurde an diesem Wochenende bewiesen, dass kraftzehrende und umfangreiche Orchesterwerke auch mit den Orchestern kleinerer Opernhäuser souverän gemeistert werden können. Ein gelungener Saisonabschluss 2017/18, von dem das Publikum noch in der U-Bahn auf dem Heimweg schwärmte.
Phillip Schober, 23. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de
Bin beim Durchblättern der klassik-begeistert.de-Beiträge über Ihren Artikel gestolpert … und hängengeblieben. Sehr angenehm flüssig und trotzdem fachkundig geschrieben, Herr Schober. Kompliment an Sie und natürlich an die Orchester der Superlatve!
Herzlich
Teresa aus Hamburg