“L’Aiglon” vom Komponistenduo Honegger/Ibert entfaltet seine Flügel am Staatstheater Mainz

Arthur Honegger & Jacques Ibert, L’Aiglon  Staatstheater Mainz, 2. Februar 2025

L’Aiglon – Derrick Ballard, Alexandra Samouilidou © Andreas Etter

Am Staatstheater Mainz kann man momentan eine doppelte Kuriosität erleben: Nicht nur, dass mit dem musikalischen Drama “L’Aiglon” eine große Rarität auf dem Spielplan steht! Es ist auch eine absolute Seltenheit, dass eine Oper von zwei Komponisten gemeinsam komponiert wurde. Dies taten im Jahre 1936 Arthur Honegger (1892-1955) und Jacques Ibert (1890-1962). Herausgekommen ist ein von Wiener Walzer und französischem Neoklassizismus gekennzeichnetes Konversationsstück, das dem Publikum stets angenehm in den Ohren erklingt und doch, trotz dieses musikalischen “Populismus” ein Kunstwerk bleibt!


Arthur Honegger & Jacques Ibert
L’AIGLON (DER JUNGE ADLER)

Drame musical in fünf Akten
(Text von Henri Cain nach dem gleichnamigen Drama von Edmond Rostand)

Musikalische Leitung: Hermann Bäumer

Inszenierung: Luise Kautz
Bühne: Valentin Mattka
Kostüme: Tanja Liebermann
Video: Judith Selenko

Staatstheater Mainz, 2. Februar 2025

von Jean-Nico Schambourg

Uraufgeführt am Opernhaus in Monte-Carlo am 11. März 1937, erzählt die Oper die Geschichte vom Herzog von Reichstadt, dem Sohn von Napoleon Bonaparte, 1811 geboren, der nach dem Sturz und Verbannung seines Vaters mit seiner Mutter Marie Louise nach Wien umgesiedelt wird. Dort wächst er unter den Fittichen und der strengen Überwachung des österreichischen Staatskanzlers Metternich auf, der alles tut, um jeglichen französischen Patriotismus bei dem heranwachsenden jungen Mann zu unterdrücken.
Als 1830 die Anhänger Bonapartes in Frankreich vermehrt auf die Rückkehr des “jungen Adlers” hoffen, unternimmt Metternich alles, um dessen Fluchtpläne nach Frankreich zu verhindern. 1832 stirbt der junge “König ohne Land” in Schloss Schönbrunn an Leukämie.

Die Oper, konzipiert nach dem gleichnamigen Drama von Edmond Rostand, dem Autor des berühmten “Cyrano de Bergerac”, ist in fünf Akte eingeteilt, wobei jeder Akt einen Untertitel hat:

1. Akt: Die Flügel öffnen sich

Unterstützt von seinem französischen Lakaien Flambeau, einem früheren Soldaten, der mit Napoleon Bonaparte viele Schlachten durchlebt hat, flammt im jungen Herzog der Gedanke nach Flucht und Übernahme der Macht in Frankreich auf. Auch Marschall Marmont, der sich in den entscheidenden Momenten von seinem Vater abgewandt hatte, bekräftigt ihn in diesen Ideen.

2. Akt: Die Flügel schlagen

Der Herzog ist entschlossen zu fliehen und hat als Zeichen den Spitzhut seines Vaters auf den Tisch gelegt. Als Metternich eintritt und den Hut sieht, verliert er die Fassung bei dem Gedanken, dass sein Erzfeind noch leben könnte. Flambeau, der in französischer Uniform Wache vor dem Schlafzimmer des Herzogs steht, bestätigt ihn in dieser Wahnvorstellung. Als der junge Herzog aus dem Zimmer hervortritt, rächt sich Metternich an diesem und hält ihm das Erbe seiner habsburgischen Abstammung vor: Erbkrankheiten und Wahnzustände aufgrund Jahrhundert langer Inzucht. Der Herzog bricht verzweifelt zusammen.

3. Akt: Geschundene Flügel

Nach Metternichs Standpauke ist der Herzog vollkommen niedergeschlagen. Auf einem Maskenball sucht er zuerst Trost bei Thérèse, der jungen Vorleserin seiner Mutter. Doch die Anhänger Bonapartes haben ihr Vorhaben noch nicht aufgegeben. Durch einen Manteltausch mit seiner Cousine soll der Herzog den Spionen Metternichs entkommen. Flambeau ist wieder auf das Schloss geschlichen und hilft dem Herzog zur Flucht.

4. Akt: Gebrochene Flügel

Der Fluchtplan wird entdeckt. Um den Schergen Metternichs zu entkommen, tötet sich Flambeau selbst. Zusammen mit dem Herzog träumt er, auf dem Schlachtfeld von Wagram zu stehen und zu sterben.

5. Akt: Die Flügel schließen sich

Der Herzog stirbt an Leukämie inmitten seiner Vertrauten. Vor seinem Tod singt ihm Thérèse auf seinen Wunsch französische Volkslieder. Metternich ordnet an, man solle dem Toten die weisse (österreichische) Uniform anziehen.

Der Text war sowohl Honegger als auch Ibert separat vorgeschlagen worden. Beide Komponisten entschieden sich zu einer gemeinsamen Komposition. Es war dies nicht die erste Zusammenarbeit, da beide im Kontext der sogenannten “Gruppe der Sechs” (“Les Six”, bestehend aus Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre) schon zusammen gearbeitet hatten.

Welcher Komponist welchen Part der Musik komponiert hat, blieb stets ein Geheimnis, das die beiden Komponisten stets bewahrten mit Aussagen wie “einer schrieb die Be’s, der andere die Kreuze”. Auch wenn beide eine eigene musikalische Persönlichkeit hatten, so schafften sie es doch diesem Werk eine eigene spezielle Identität zu verleihen. Neben Wiener Walzer in französischem Neoklassizismus-Ambiente verarbeiteten die Komponisten auch französische Volkslieder (Sterbeszene des Herzogs), wie auch die “Marseillaise” und die Hymne “Le chant du départ”. Besonders eindrucksvoll dabei die Schlussszene des 4. Akts, wo die Musik immer grandioserer klingt, um die imaginären Kriegsszenen zu veranschaulichen.

Dies gelingt dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter der Leitung von Hermann Bäumer sehr gut. Imposant, wie es die Wahnvorstellungen der Kriegswirren des Herzogs mit vollen Klängen vermitteln kann, dabei aber auch die einzelnen Themen wie z.B. die Hymnen klar hervorhebt. Auch anfangs der Oper, als die Musik noch eher von Walzer geprägt ist, besitzt das Orchester genug Schwung und “Schmäh” für diese Musik.

L’Aiglon_Alexandra Samouilidou, Derrick Ballard (c) Andreas Etter

Gesanglich bewegt sich das Ensemble auf der Bühne auf demselben guten Niveau wie der Graben. Alexandra Samouilidou interpretiert mit fester Stimme den heranwachsenden jungen Mann und kann dessen entfachende Begeisterung für die Machtergreifung eben so gut darstellen wie dessen Melancholie und Verzweiflung. Derrick Ballard verleiht der Figur des Flambeau seinen festen großen Bass, mit dem er sowohl das Poltern des treuen Soldaten als auch dessen totale Ergebenheit den Bonapartes (Vater und Sohn) gegenüber ausdrückt.

L’Aiglon – Gabriel Rollinson © Andreas Etter

Gabriel Rollinson singt die Rolle des Fürst von Metternich mit ausdrucksvollem Bariton und macht aus ihm eine recht zwielichtige Figur. Julietta Aleksamyan berührt mit klarer reiner Sopranstimme in der Rolle der Thérèse. Tim-Lukas Reuter als Marschall Marmont, Myungin Lee als Friedrich von Gentz, Collin André Schöning als französischen Militärattaché, Daniel Samsichko als Graf Prokesch-Osten, Anke Peifer als Marie Louise, Verana Tönjes als Fanny Elssler, sowie alle anderen Sänger verdienen sich neben Chor und Statisterie den Applaus des Publikums.

Auch szenisch lässt diese Aufführung keine Wünsche offen. Die Inszenierung von Luise Kautz ist gut durchdacht und entwickelt sich im Laufe des Abends von der Erzählung der Geschichte eines jungen Mannes gefangen im goldenen Käfig von Schloss Schönbrunn zur mitreißenden Darstellung der Ängste und Wahnvorstellungen der Hauptprotagonisten Herzog von Reichstadt und Fürst Metternich. Dabei vermischen sich Realität und Surrealismus immer stärker, sodass man zum Schluss sich auch vorstellen kann, dass die ganze Aufführung nur ein Traum der Protagonisten sei.

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Auch das Bühnenbild von Valentin Mattka folgt dieser Idee: Hat dieses am Anfang noch klar die Strukturen der Zimmer eines königlichen Schlosses, so wird es im Laufe des Abends immer abstrakter, unterstützt von den Videoeinspielungen von Judith Selenko. Die Inszenierung wird sehr effektvoll unterstützt bei der Darstellung, wie Fürst Metternich jedes französische Element aus dem Leben des Herzogs zu verbannen sucht. Auch die zeitbezogenen Kostüme von Tanja Liebermann tragen zum szenischen Erfolg des Abends bei.

Auch wenn schlussendlich der Bühnenerfolg dieser Oper zweier großer Komponisten des 20. Jahrhunderts sich in Grenzen hielt, eine Entdeckung ist diese Oper sicherlich wert. Dem Staatstheater Mainz gebührt großen Dank für sein stetiges Auffinden und seinen Einsatz zugunsten vergessener Werke (im letzten Jahr war es “Gunlöd” von Cornelius).

Jean-Nico Schambourg, 4. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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