Glockensatz hr-sinfonieorchester © Andreas Maul
Überschriften sind wichtig, damit ein Artikel seine Leser findet. ACHTSAM STALKEN, so wollte ich heute titeln und das Thema im Text fortführen. Achtsamkeit ist gerade ziemlich angesagt, und man kann die Geschichte der Symphonie fantastique heutzutage leicht in Richtung Stalking biegen. Berlioz war schwer in Harriet Smithson verliebt, und zur Balz hat er mal eben seine Symphonie fantastique komponiert. Ausgangspunkt der Symphonie ist die Liebe des Komponisten zu eben jener Harriet. Aber was harmlos beginnt, endet in der Partitur böse. Weil sie Hectors Liebe nicht erwidert, killt er Harriet im Opiumrausch. Harriet hat diese Botschaft verstanden und den Komponisten im richtigen Leben vorsichtshalber geheiratet.
Orchestre symphonique de Montréal
Rafael Payare / Dirigent
Daniil Trifonov / Klavier
Robert Schumann / Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54
Hector Berlioz / Symphonie fantastique, Épisode de la vie d’un artiste op. 14
Elbphilharmonie, Großer Saal, 24. November 2024
von Jörn Schmidt
Wo ist nun das Problem mit dem Titel? Wenn man Berlioz und Stalker bei Google eingibt, findet man einige Beiträge zum Thema. Die meisten in englischer Sprache verfasst, aber man will ja keinen Abklatsch produzieren. Auch das Thema Achtsamkeit war schnell raus, weil ebenfalls schon recht ähnlich verarbeitet. Es gibt eine Romanverfilmung, die heißt „Achtsam Morden“.
Also musste ein neuer Titel her, und da habe ich mich an eine Freundin erinnert, die war mal auf einen Faschingsdienstag in New Orleans, um an den berühmten Mardi Gras Karnevalsfeierlichkeiten teilzunehmen. Eigentlich ist Mardi Gras viel mehr als Karneval, aber hier geht es um einen ganz bestimmten Brauch.
Beim sog. Flash for Beads (besser: Flashing for Mardi Gras Beads) schenkt man der Damenwelt als Dankeschön bunte Perlenketten, wenn sie mal kurz ihre Oberweite unverhüllt aufblitzen lassen. Ich habe kurz recherchiert, ob das überhaupt legal ist und einen Artikel in der BILD gefunden („Bei diesem FK-Karneval blitzen blanke Busen“).
Demnach wird öffentliches Entblößen in New Orleans mit einer Gefängnis- oder Geldstrafe (Stand 2010 bis zu 1.000 Dollar) geahndet. Doch bei einer über hundert Jahre alten Tradition drückt man dort schon mal beide Augen zu. Erst recht, wenn es den Touristen Spaß macht. Die dürfen dann auch mal lauthals „Show me your t…“ grölen, um ihre Perlen loszuwerden. So erklärt sich also die Überschrift…
Aber bevor der Artikel jetzt in die falsche Richtung geht, hier dreht sich nichts um die Oberweite von Harriet Smithson und schon gar nicht um Anzüglichkeiten. Sondern um die neuen Orchesterglocken (orchestral bells) des Orchestre symphonique de Montréal. Lesen Sie dazu bitte mein Glocken-Special, das hier bei Klassik-begeistert veröffentlicht ist.
Mich faszinieren diese Glocken und da traf es sich gut, dass das Orchestre symphonique de Montréal bei seinem Hamburg-Besuch zwei dieser Glocken im Gepäck hatte. Ein tiefes G und ein mittleres C, passend zum Glockenmotiv (zweimal C, einmal G) im fünften Satz der Symphonie fantastique. Das ist nachgerade die Paraderolle schlechthin für jede ernstzunehmende Orchesterglocke.
Weniger glückliche Orchester, die nicht über einen Satz Orchesterglocken verfügen, müssen sich übrigens mit Röhrenglocken behelfen. Klar, dass ich mir die Glocken nun selber angucken wollte und mich in die Elbphilharmonie begeben habe. Denn nachdem Berlioz Frau Smithson orchestral gekillt hat, wird er mit dem Fallbeil hingerichtet. Es schließt sich Satz ein Hexensabbat an, dort kündigt Totengeläut ein Dies irae an.
Zu sehen gab’s die Glocken dann nicht, aber das war nicht wirklich überraschend, denn die Glocken gehören getrennt vom Orchester hinter der Kulisse aufgestellt. Dies nicht etwas aufgrund einer Auflage der Versicherung und schon gar nicht auf Wunsch des Dirigenten. Berlioz selbst hatte für die Glocken vorgeschrieben: Derrière la scène.
Ich habe mich ein wenig belesen, warum Berlioz solche Schmuckstücke verstecken lässt. Zunächst einmal gibt das einen ziemlich beeindruckenden räumlichen Klangeffekt. Außerdem wird diskutiert, dass die räumliche Trennung auch eine inhaltliche beziehungsweise programmatische Trennung sei.
Die ganze Symphonie ist nicht ganz ernst gemeint. Ich bin mir sicher, Berlioz hat Gewalt gegen Frauen zutiefst verabscheut, ebenso wie Stalking. Und an so was wie Hexensabbat hat er vermutlich auch nicht geglaubt. Selbst den Dies irae wird zugeschrieben, es sei ganz und gar nicht zornig, sondern parodistisch aufgehellt. Angst und Schrecken zu verbreiten, das sei dagegen Aufgabe der Glocken.
Genau aus diesem Grund braucht es Orchesterglocken. Röhrenglocken haben nicht das Potential, Angst und Schrecken zu verbreiten. Man muss sich die Tubular Bells nur mal ansehen, die sehen irgendwie aus wie ein Rippenheizkörper. Aber wie sah Maestro Rafael Payare das?
Das Orchestre symphonique de Montréal hat eine unheimlich hohe Spielkultur, da kann Payare nicht widerstehen und setzt auf perlenkettenmäßig gut aufgereihtem Schönklang. Damit der große Bogen nicht verloren geht, werden die Abgründe der Charaktere in Details verpackt. Sinnbildlich dafür auch der Einsatz der Totenglocken. So fein und klar die Schätzchen klingen, so sehr geht ihr Nachhall unter die Haut. Die von der niederländischen Glockengießerei Royal Eijsbouts Foundry gefertigten insgesamt 10 Glocken qualifizieren sich als orchestrales Hidden Asset des phantastischen Orchestre symphonique de Montréal.
Jörn Schmidt, 25. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Auf den Punkt 33: Webers Freischütz Staatsoper Hamburg, 23. November 2024
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