Yannick Nézet-Séguin feiert ein wichtiges Debüt in Baden-Baden

Baden-Badener Sommerfestival La Capitale d’Été, LSO, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent  Baden-Baden, Festspielhaus, 16. Juli 2024

Sommerfestspiele Baden-Baden 2024 © privat

Im Rahmen des Baden-Badener Sommerfestivals La Capitale d’Été erklingt Musik von Berlioz und Tschaikowski mit dem London Symphony Orchestra, das der Kanadier an diesem Abend tatsächlich zum allerersten Mal dirigiert.

Baden-Baden, Festspielhaus, 16. Juli 2024

Hector Berlioz (1803-1869) – Les nuits d’été op. 7

Pjotr Tschaikowski (1840-1893) – Sinfonie Nr. 6 op. 74 („Pathétique“)

Joyce DiDonato, Mezzosopran

London Symphony Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent

 von Brian Cooper

Es ist eine ganz besondere Stille, die wir da erleben, nach dem so leise wie nur möglich verklingenden Ende der Pathétique. Eine halbe Minute dauert sie bestimmt an, vielleicht sogar eine ganze Minute – pure Magie nach intensiven 50 Minuten hochdramatischer, tragikgeschwängerter Musik.

Yannick Nézet-Séguin bestreitet in Baden-Baden nunmehr sein drittes Sommerfestival La Capitale d’Été. Das Programm ist ein wenig ausgedünnter als in den Jahren zuvor, aber immerhin war dieser Abend gut besucht, und das Konzert am kommenden Sonntag ist sogar ausverkauft.

Diese „Sommergala“ war, man mag es kaum glauben, das Debütkonzert des Dirigenten mit dem London Symphony Orchestra. Seine Lesart der Pathétique begann unglaublich langsam, man dachte an Celibidache, der die tragischen Tiefen der letzten drei Sinfonien Tschaikowskis so herausragend auszuloten verstand. Das D-Dur-Sehnsuchtsthema geriet außerordentlich warm; es kam, wie der Beginn des Kopfsatzes, aus dem Nichts. Und dann dieses himmlische Klarinettensolo, das ebenfalls im Nichts verebbt – so leise geht es zu – und von jenem berüchtigten Fortissimo-Schlag jäh unterbrochen wird, der all jene weckt, die es gewagt haben, einzuschlafen. Ein fabelhaftes Orchester spielte unter einem fabelhaften Dirigenten. So viel stand fest.

Nezet-Seguin, DiDonato, LSO © Andrea Kremper

Der zweite Satz, im Fünfvierteltakt (im Grunde ein wechselndes Drei-Zwei, Zwei-Drei, auch wenn das klingt wie eine Fußballaufstellung), wurde mit dem gesamten Charme dargeboten, den dieses Wunderorchester aufbieten kann. Wiegend, voller Subtilität, aber auch hier voll schmerzhafter Wehmut.

Das Tempo des dritten Satzes begann so irritierend schnell, dass kein Orchester der Welt es mit der gebotenen Präzision zu spielen imstande wäre. Das war für mich ein Ärgernis, denn es schien so effektheischend, als lege es Yannick auf den Applaus an, der allzu häufig nach diesem Scherzo-Marsch folgt. Stattdessen ging es aber attacca in den vierten Satz, der für mich das Highlight dieser Pathétique war, mit der Intensität des ersten Satzes (wunderbar anzuschauende Gesten des Dirigenten). Ganz besonders grandios, ein Gänsehautmoment, waren die fahlen Hörner, gefolgt von einem nie zuvor so wahrgenommenen Gongschlag und dem Todeschoral von Posaunen und Tuba, bevor der Herzschlag der Bässe die Coda einleitete. „Wie ein ersterbendes EKG“, merkte mein Begleiter hinterher an.

Nezet-Seguin, DiDonato, LSO © Andrea Kremper

„Tolle Durchhörbarkeit, kristalliner Klang“, schrieb in der Nacht ein weiterer Freund, als wir alle in verschiedene Himmelsrichtungen abgerauscht und nach drei bis vier Stunden Fahrzeit wieder zuhause angelangt waren.

Vor der Pause erklangen die sechs Lieder der Nuits d’été von Berlioz, mit Joyce DiDonato, die bereits im Sommer 2023 das Festspielhaus mit ihrem Berlioz-Gesang beglückt hatte. Hier ist die Besetzung des Orchesters kleiner, und es war ein Hochgenuss, wie Yannick die fabelhaft aufgelegte Solistin förmlich auf Rosen bettete. Mein Begleiter gestand einem seiner Freunde, er habe sie noch nicht gehört, woraufhin dieser die treffenden Worte erwiderte, danach sei man ihr „für alle Ewigkeit verfallen“. Amen.

Nezet-Seguin, DiDonato, LSO © Andrea Kremper

Es war eine der schönsten Darbietungen dieses selten genug aufgeführten Zyklus, die ich je erleben durfte. DiDonatos Stimme glänzte, hatte Volumen, die Sängerin gestaltete (auch mit ihrer linken Hand) und phrasierte aufs Fantasiereichste die herrlichen Texte von Théophile Gautier, von denen man fast jedes Wort verstand. Luftig erklang das erste Lied, mit bemerkenswerter Tiefgründigkeit „Le spectre de la rose“, und im kurzen Abschlusslied zogen Orchester wie Solistin alle Register des Gestalterischen, wobei das Orchester die Musik von Berlioz wie ein subtiles, kostbares französisches Parfum in den Saal trug.

Nezet-Seguin, DiDonato, LSO © Andrea Kremper

Daran hatte natürlich auch der gut aufgelegte Dirigent seinen Anteil. Hätte nicht die Riege hinter uns einander dreimal laut wispernd versichert, dass die Texte offenbar französisch seien, wär’s noch schöner gewesen.

Dr. Brian Cooper, 17. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent, Rachmaninow Baden-Baden, Festspielhaus, 5. November 2023

Berliner Philharmoniker, Lisa Batiashvili, Violine, Kirill Petrenko, Dirigent Baden-Baden, Festspielhaus, 1. April 2024

Richard Strauss (1864-1949), Elektra, Text von Hugo von Hofmannsthal Baden-Baden, Festspielhaus, 31. März 2024

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert