John Neumeiers großartiges Ballett Nijinsky begeistert das Publikum auch mit einer völlig neuen Besetzung

Ballett Nijinsky von John Neumeier  Staatsoper Hamburg, 31. Oktober 2023

Foto: Ida Praetorius (Romola Nijinska), Aleix Martínez (Vaslaw Nijinsky), Matias Oberlin (Serge Diaghilew), Silvia Azzoni (Die Ballerina, Tamara Karsavina), Ida Stempelmann (Bronislava Nijinska), Louis Musin (Stanislaw Nijinsky) (Fotos: RW)

Aleix Martínez tanzte die Hauptpartie, von Anfang an den ambivalenten, den Wahnsinn vorausahnenden Charakter des Ausnahmetänzers Nijinsky darstellend. Das Publikum im ausverkauften großen Saal der Hamburgischen Staatsoper war von der Aufführung hellauf begeistert, applaudierte lange stehend und ließ seinen Emotionen, vor allem für die großartige Leistung von Aleix Martínez, freien Lauf.

 

Ballett

Nijinsky
von John Neumeier

Staatsoper Hamburg, 31. Oktober 2023


von Dr. Ralf Wegner

Vaslaw Nijinsky, einer der größten Tänzer der Ballettgeschichte, wurde um 1889 in Kiew als Sohn des Tänzers Thomas Nijinsky und der Tänzerin Eleonora Bereda geboren. Seine um drei Jahre jüngere Schwester Bronislava Nijinska arbeitete später ebenfalls als Tänzerin sowie als Choreographin, sein zwei Jahre älterer Bruder Stanislaw starb 1917 nach längerem Seelenleiden. 1908 begann die Beziehung Nijinskys mit dem Ballett-Impresario Serge Diaghilew, 1913 heiratete er die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky, die er während einer Tournee nach Südamerika kennengelernt hatte.

1919 erlitt Nijinsky während einer privaten Aufführung in St. Moritz im Hotel Suvretta House einen Nervenzusammenbruch und wurde danach lange, u.a. wegen Wahnvorstellungen, psychiatrisch behandelt. Seine Tänzerkarriere nahm er nie wieder auf. Nijinsky starb 1950 in London.

John Neumeiers Nijinky-Ballett erlebte im Juli 2000 seine Uraufführung. Das Stück beginnt und endet mit dem letzten Auftritt Nijinskys im Festsaal des Hotels Suvretta House. Romola versucht Nijinsky zum Tanzen zu bewegen. Der von ihm improvisierte, eher moderne Tanzstil verunsichert die Zuschauer im Festsaal des Hotels. Nijinsky zeigt schließlich doch noch etwas von seinen bewunderten tänzerischen Fähigkeiten, gerät aber angesichts des plötzlich in den Saal tretenden Impresarios Diaghilew in Verwirrung.

Rückblick: Die Bühne weitet sich und gibt zahlreichen Tänzerinnen und Tänzern Raum, Figuren aus verschiedenen Balletten, in denen Nijinsky aufgetreten war, zu interpretieren. Nijinskys Beziehungen zu seinem Liebhaber Diaghilew und zur ihn bewundernden späteren Ehefrau Romola werden ebenso tänzerisch geschildert wie jene, eher ablehnenden, zu dem bereits psychisch erkrankten Bruder Stanislaw.

Nach der Pause befasst sich Neumeiers Choreographie mehr mit dem Innenleben des Protagonisten, vor allem mit den durch die Ereignisse des I. Weltkriegs bei ihm ausgelösten Ängsten; passend zur vom Philharmonischen Staatsorchester unter der Leitung von Constantin Trinks eindringlich gespielten Sinfonie Nr. 11 g-moll von Dmitri Schostakowitsch. Stanislaw hat ein grandioses Solo, danach folgt das monumentale, überwältigende Tanz-Stakkato der 22 Soldaten, dem sich Bronislava Nijinska ekstatisch mit einem Stück aus Le Sacre und Nijinsky mit der Rolle eines Kommandierenden anschließen.

Romola, die sich im ersten Teil mehr für die getanzten Rollen ihres Gatten interessiert hatte, nähert sich schließlich dem erschöpften Gatten in einem tief emotional empfundenen Pas de deux (Schlitten-Pas de deux). Schließlich zeigt der mittlerweile offensichtlich dem Wahn verfallene Vaslaw Nijinsky ein psychisch wie auch physisch ergreifendes Schlusssolo; am Ende auf einen Stuhl gestiegen, breitet Nijinsky weit seine Arme aus, und der Vorhang fällt.

Alessandro Frola (Geist der Rose), Javier Monreal (Petruschka), Artem Prokopchuk (Faun)

Fast alle Rollen waren neu besetzt. Aleix Martínez hatte den Nijinsky zwar schon einmal getanzt, 2016, hat aber an seiner Rollengestaltung offenbar noch gefeilt. Damals war Silvia Azzoni seine ihm angetraute Romola. Heute ließ sich diese großartige Tänzerin wieder auf der Bühne bewundern, mit vollendeter Grazie, unverändert sicherem Spitzenstand und mit einer unvergleichlichen Aura tanzte sie die kleineren Partien der Tänzerin Tamara Karsavina wie die Sylphide aus Les Sylphides, die junge Frau aus Jeux, die Nymphe aus L’Après-midi d’un faune sowie die Ballerina aus Petruschka. Die Partie der Romola wurde von Ida Praetorius wunderbar getanzt, aber nicht mit genügend emotionaler Entäußerung dargestellt. Selbst im Schlitten-Pas de deux blieb sie tänzerisch beherrscht und vermittelte zu wenig vom auch physisch erschöpfende Ringen um den dem Wahn verfallenden Partner.

Aleix Martínez war dieser Partner, er legte seine Rolle anders an als vor ihm Alexandr Trusch oder Alexandre Riabko, weniger mit hinreißendem Charme Anerkennung und Beifall suchend, als vielmehr von Anfang an den ambivalenten, den Wahnsinn vorausahnenden Charakter des Ausnahmetänzers Nijinsky darstellend. Manchmal spielte Martínez wie ein verlassenes Kind, welches nur Rückhalt und Schutz in den starken väterlichen Arme seines Impresarios Diaghilew, getanzt von Matias Oberlin, sucht. Von einer auch erotischen Beziehung mit Diaghilew ist wenig zu spüren, vor allem nicht in dem Pas de deux im ersten Teil, das gilt aber weitgehend auch für die Liaison mit Romola. Vielleicht ist auch diese Interpretation Martínez’ Ursache für das Fehlen einer weiteren Dimension in der Partnerbeziehung, sei es zu seinem Liebhaber Diaghilew oder zu seiner Frau Romola. Insoweit ähnelt Martínez’ Interpretation immer noch stark jener seines Bruders Stanislaw, dem er ja die letzten Jahre mit großer emotionaler und physischer Kraft Gefühl und Gestalt gegeben hatte.

Das Ensemble im Bühnenbild des teilzerstörten Suvretta Festsaals, vorn Louis Musin

Diesen Part hatte jetzt Louis Musin übernommen, der nach seinem in der letzten Saison umjubelten Debüt als Romeo auch als Stanislaw mit einem großartigen Solo im zweiten Teil überzeugen konnte. Ida Stempelmann (Bronislava, Schwester Nijinskys und Choreographin) muss besonders erwähnt werden. Wenn sie in einer Solopartie die Bühne betritt, verfängt sie sofort mit ihrer Ausstrahlung. Außerdem tanzt sie großartig, fast schon so expressiv wie noch in der letzten Saison Patricia Friza oder ganz früher Beatrice Cordua.

Artem Prokopchuk erwies sich als beeindruckender Goldener Sklave in Scheherazade sowie als Faun in L’Après-midi d’un faune. Hier funkte es zwischen ihm und Ida Praetorius, die sich als Romola ja auch eher in die Rollen ihres Gatten und weniger in seine Person verguckt hatte. Die Rolle des Petruschka wurde von dem erst 20jährigen Spanier Javier Monreal überzeugend getanzt und dargestellt. Gleiches gilt für Alessandro Frola als Geist der Rose in Spectre de la rose.

Das Publikum im ausverkauften großen Saal der Hamburgischen Staatsoper war von der Aufführung hellauf begeistert, applaudierte lange stehend und ließ seinen Emotionen, vor allem für die großartige Leistung von Aleix Martínez, freien Lauf. Mehrer Blumensträuße für verschiedene Tänzerinnen und Tänzer flogen auf die Bühne.

Dr. Ralf Wegner, 2. November 2023, für
Klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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