Bei der heutigen Vorstellung wurde gefilmt (französische Produktionsfirma Telmondis für Mezzo TV und der japanischen Rundfunkanstalt NHK). John Neumeier trat zu Beginn vor den Vorhang und bat um Ruhe während der gesamten Aufführung. Da der Ton mitgeschnitten würde, möge man zudem von Zwischenbeifall absehen und auch nicht seiner Verwunderung ob des sehr langen Tisches am Anfang des zweiten Aktes Ausdruck geben. Bei der Veranstaltung vor einer Woche hatte es deswegen Gelächter gegeben. Neumeier meinte, eine (durchaus sinnfällige) Assoziation mit dem weltbekannten Tisch (aus dem Kreml) sei nicht beabsichtigt.
Foto: Das Anna-Karenina-Ensemble (Aufnahme vom 06. Mai 2022, RW)
Staatsoper Hamburg, 13. Mai 2022
Anna Karenina
Ballett von John Neumeier, inspiriert von Leo Tolstoi
von Dr. Ralf Wegner
Während der Aufführung vor einer Woche kollabierte offenbar jemand im Parkett in der Mitte der zweiten Reihe. Nach einiger Unruhe ließ der Dirigent nicht weiter spielen; Anna Laudere, gerade die Entbindungsszene hinter sich, verharrte, regungslos ins Publikum schauend, auf ihrem Kreißsaalbett. Es dauerte eine Weile, bis sich Fachpersonal zur erkrankten Person durch die Reihe quetschte und noch länger, bis das Publikum dieselbige verließ und den weiteren Helfern Platz machte. Am Ende gab es noch zwei kleine technische Pannen, zum einen entgleiste der Spielzeugzug nicht richtig, denn er spuckte keine Blitze, sondern blieb einfach stehen. Als Anna Laudere sich zeitgleich niederwarf, versank sie nicht wie sonst sofort in der Unterbühne, sonder verblieb noch eine zeitlang regunsglos auf der schmalen Hebevorrichtung liegen.
Wir saßen während jener Aufführung in der 16. Reihe. Drei Reihen vor uns filmte eine Dame mit ihrem Handy fast ununterbrochen die ersten Szenen. Infolge der Blendung durch das hochgehaltene helle Display wurde die Konzentration auf das Bühnengeschehen deutlich beeinträchtigt. Aber niemand der Umsitzenden beschwerte sich. Schließlich rief ich leise nach vorn, man möge vorn das Handy ausschalten. Die Dame folgte dem Rat und drängelte sich 5 Minuten später durch die Zuschauerreihe und begab sich zum Ausgang.
NEUMEIERS BALLETT ANNA KARENINA WURDE VERFILMT
Bei der heutigen Vorstellung wurde gefilmt (französische Produktionsfirma Telmondis für Mezzo TV und der japanischen Rundfunkanstalt NHK). John Neumeier trat zu Beginn vor den Vorhang und bat um Ruhe während der gesamten Aufführung. Da der Ton mitgeschnitten würde, möge man zudem von Zwischenbeifall absehen und auch nicht seiner Verwunderung ob des sehr langen Tisches am Anfang des zweiten Aktes Ausdruck geben. Bei der Veranstaltung vor einer Woche hatte es deswegen Gelächter gegeben. Neumeier meinte, eine (durchaus sinnfällige) Assoziation mit dem weltbekannten Tisch (aus dem Kreml) sei nicht beabsichtigt.
Wir saßen diesmal in der ersten Reihe auf den Plätzen fünf und sechs; Kosten jeweils 54,50 Euro mit der Operncard (99 Euro Jahresbeitrag für zwei Personen). Wir sahen wunderbar, und ganz anders. Da wir das Stück noch gut in Erinnerung hatten, musste man sich nicht mehr auf die narrativen Elemente konzentrieren, sondern konnte auch die Nebenhandlungen und die weiter hinten Tanzenden intensiver beobachten.
Zu Beginn konnte einem fast schwindelig werden ob des tänzerischen Gewimmels auf der Bühne. 42 Personen, darunter auch Mitglieder der Ballettschule, bevölkerten die nicht sehr breite Staatsopernbühne, zunächst in erstarrter Begeisterung verharrend, dann dem als Wahlkampfredner auftretenden Alexej Karenin begeisternd, geradezu anhimmelnd folgend. Wie jede Tänzerin und jeder Tänzer sich dieser Aufgabe mit großem Ausdruck widmete, war imponierend. Es grenzt an ein Wunder, dass bei diesem sich oft drehenden Gewusel alles koordinert und ohne Zusammenstöße ablief. Mit so großen Massen umzugehen ohne das Individuelle zu vernachlässigen habe ich bei anderen Choreographen bisher nicht erlebt.
Die Besetzung war dieselbe wie vor einer Woche. Florian Pohl hat mir diesmal in der Rolle des Stiwa besser gefallen, Patricia Friza war wieder großartig. Schön war es, Emilie Mazon aus der Nähe zu erleben, denn ihre auch das Mimische einbeziehende Darstellungskraft überzeugte in den freudigen Momenten wie im tiefem Schmerz. Gleiches gilt für Aleix Martinez, den Neumeier zusätzlich noch mit viel Körpereinsatz bedacht hatte. Anna Laudere war als Anna Karenina tänzerisch und darstellerisch vorbildlich, ebenso ihr Bühnenehemann Ivan Urban. Edvin Revazovs Darstellung wäre mit einer intensiveren Ausdrucksvariation sicher noch fesselnder. Dafür läuft Anna Laudere in seinen Armen immer zu Höchstleistungen auf, zudem hat man bei Revazov nie das Gefühl, seine partnerschaftlichen Hebefiguren könnten daneben gehen. Außerdem geben beide optisch ein außerordentlich schönes Paar ab. Xue Lin ist ebenfalls eine sehr gute Tänzerin, aber mit wenig wechselnden Gesichtszügen muss sie es als Gräfin Lydia allein durch Bewegung und tänzerische Umgarnung schaffen, Karenin aus seiner seelischen Verwundung zu lösen, und das gelingt ihr gut.
Niemals kam während der insgesamt zweieinhalbstündigen Nettospieldauer Langeweile auf. Vielmehr fesselte das hochkompetente Neumeierensemble aus gut 60 Personen einschließlich der 5 Kinderdarsteller der Ballettschule von der ersten bis zur letzten Minute. Die musikalische Leitung hatte Nathan Brock. Am Ende der Aufführung gab es großen Jubel für alle Beteiligten, vor allem auch für den sichtlich bewegten John Neumeier, der sich dazugesellt hatte. Blumen für Patricia Friza und Anna Laudere.
Ein kleiner Nachtrag: Rechts von uns saß ein junger Mann, dem an den traurigen Stellen der Aufführung immer sichtbarer die Tränen liefen. Schließlich wühlte er aufwendig in dem mitgebrachten Rucksack, dann noch in seiner ausgezogenen Jacke nach irgendetwas; offenbar fehlte ihm ein Taschentuch, um seine Gemütsregungen besser in den Griff zu bekommen. Diese Erkenntnis versöhnte dann doch mit seinem wuseligen Verhalten während der Schlussszenen.
Dr. Ralf Wegner, 14. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Anna Karenina, Ballett von John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 06. Mai 2022
Klassik-begeistert-Beitrag sorgt für Furore klassik-begeistert.de, 29. April 2022