Ein feines Vergnügen für Gehör, Herz und Hirn…
Foto: Albrecht Mayer © Matt Dine
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 28. Mai 2019
Bamberger Symphoniker
Albrecht Mayer, Oboe
Jakub Hrůša, Dirigent
Edward Elgar: Soliloquy für Oboe und Orchester
Richard Strauss: Oboenkonzert D-Dur AV 144
Bedřich Smetana: Má vlast (Mein Vaterland) / Sinfonische Dichtung
von Guido Marquardt
Albrecht Mayer sorgt mit zwei eher introspektiven, zarten Kompositionen für gespannte Aufmerksamkeit. „Má vlast“ mit der berühmten „Moldau“ ist dann ein souveränes Heimspiel für den Dirigenten und ein packend konturiertes, mitreißendes Fest für sein Orchester.
Wo man als Rezensent im Orchester sitzt, ist aus dessen Sicht reiner Zufall. Dass es sich oft um Plätze der besten Kategorie handelt, ist eine dankenswerte Fügung – aber manchmal kann eine eher suboptimale Platzierung einen geradezu zaubrischen Effekt haben. So geschah es an diesem Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie: War der Verfasser genau mittig hinter dem Orchester positioniert, so befand sich der Solist exakt am anderen, vorderen Ende der Bühne. Nun ist der Oboen-Weltstar Albrecht Mayer weder durch sein Instrument noch durch seine Spielweise jemand, der das mit Kraft ausgleichen würde. Was ja zu den Stücken von Elgar und Strauss nun auch überhaupt nicht gepasst hätte.
Insofern entstand die Situation, sich gerade von einem solchen Sitzplatz umso besser davon überzeugen zu können, ob der Solist dennoch durchdringt, ob das Orchester ihm Raum zur Entfaltung lässt und ob es möglicherweise sogar klangliche Auswirkungen gibt, die man nicht trotz, sondern gerade wegen des Platzes erleben darf. Die Antwort darauf ist simpel: Ja, ja und ja!
Der Solist: Albrecht Mayer, zu Beginn seiner Laufbahn bei den Bamberger Symphonikern als Solo-Oboist aktiv und nun seit mehr als 25 Jahren in gleicher Position bei den Berliner Philharmonikern. Multipler Preisträger mit zahlreichen Charts-Erfolgen. Aus einem unvollendeten Spätwerk von Elgar spielt er zum Start das „Soliloquy“, also den Bühnenmonolog – eine 4-Minuten-Kostbarkeit, zart und melancholisch wie eine kurz aufblühende Knospe an einem nebligen Herbstmorgen.
Ohne Pause (er bittet vor dem Konzert in persönlicher Ansprache darum, keinen Zwischenapplaus zu spenden angesichts der kommenden Herausforderungen) gleitet Mayer über zum Oboenkonzert von Richard Strauss, ein ebenso mörderisch schweres wie klanglich überaus delikates Werk. Zudem hat Strauss hier, so Mayer vorab, „den Anfang vergessen“ und fordert dem Solisten gleich zu Beginn eine Maximalleistung in klanglicher Modulation und Atemtechnik ab. Es ist eine große Kunst, die technischen Schwierigkeiten nicht hörbar zu machen, die zarten Ornamente dieses Werks so kunstvoll auszumalen, dass man als Zuhörer quasi jede Schwingung mitgeht, ohne je distanziert auf das Geschehen zu blicken. Nach einem etwas gemächlicheren (aber, für das Orchester, etwas lauteren) zweiten Satz geht es im dritten Satz dann nochmals in virtuose, flirrende Höhen und eine etwas freiere Tongestaltung, die dann doch klarmacht, dass wir es hier nicht mehr wirklich mit einem Werk aus der Romantik zu tun haben, sondern mit frischer und zugleich fragiler, ätherischer Musik des 20. Jahrhunderts. Mayers Technik mögen Berufenere beurteilen, aber die Wirkung ist durchschlagend: So klar und fokussiert er spielt, hört man ihm auch bei leiserer Stimme umso konzentrierter zu – wie einem sehr klugen Diskutanten, der in einer aufgeregten Gesprächsrunde beinahe flüstert und damit sofort die Aufmerksamkeit aller gewinnt.
Das Orchester: Ist natürlich keine „aufgeregte Gesprächsrunde“, sondern für Mayer ein jederzeit aufmerksamer Sparringspartner, der den Solisten glänzen lässt, ohne dabei bloß routiniert das eigene Pensum abzuspulen. Vielmehr reizen sie die dynamische Struktur dieser fragilen Kompositionen aus und geben dem etwas breiteren, schwelgerischen Klangbild nur dann freie Bahn, wenn der Solist pausiert. Es entsteht alles in allem der Eindruck, dass Mayer sich bei diesem Orchester noch immer gut aufgehoben fühlt.
Die „Platzakustik“: Wunderbare Momente ergeben sich beim Strauss-Konzert immer wieder, wenn die Oboe ins Wechselspiel mit den anderen Holzblasinstrumenten einsteigt. Zunächst mit der Klarinette, später dann auch mit dem Fagott und schließlich der Querflöte. Speziell die Klarinette ist hinter der Bühne natürlich im Vergleich zur Oboe präsenter, als sie es auf einem frontalen Platz wäre. Das ist ein interessanter Effekt der räumlichen Staffelung, die hier wirklich eine Vorn-Hinten-Dynamik entstehen lässt und nicht nur die stereophonische Links-Rechts-Wirkung. Ganz genaues Hinhören wurde hier in jeder Hinsicht belohnt.
Bis zur Pause ein feines Vergnügen für Gehör, Herz und Hirn.
Und dann geht es danach direkt weiter mit den dreidimensionalen Klangplastiken: Nunmehr in großer Besetzung, dafür ohne Solisten, hebt Jakub Hrůša den Taktstock für ein musikalisches Nationalheiligtum der Tschechen, Bedřich Smetanas „Má vlast“ (Mein Vaterland). Der erste Teil dieser sinfonischen Dichtung heißt Vyšehrad, befasst sich mit der gleichnamigen Prager Hochburg und beginnt seine Geschichte mit bardischen Harfenklängen. Zwei Harfen ganz links, zwei Harfen ganz rechts, dann steigen die Trompeten in der Mitte mit ein – und erneut entsteht ein räumliches Klangbild, das den Zuhörer direkt mit ins Geschehen zieht. Hrůša lässt dieses abwechslungsreiche, packende Stück wunderbar fließen. Auf gleichem Niveau geht es weiter mit dem zweiten Stück, der weltberühmten Vltava bzw. Moldau. Die Streicher gestalten ihren Part mit – um im Flussbild zu bleiben – etwas stärkeren Wellenbewegungen, die Bauernhochzeit gerät überaus beschwingt und wenn dann die Nymphen tanzen, glänzt akustisch der Mondschein in feinstem Silberglanz.
In den Tutti-Passagen musiziert dieses Orchester durchweg mit einem gleichzeitig satten und dennoch differenzierten Klangbild. Einen derart geschmeidigen Höreindruck in Anbetracht der angeblich ja so trockenen Akustik dieses Saals zu erzeugen: Bravo!
Das dritte Meisterstück aus dem Zyklus, nun über die Amazonenkönigin Šárka, gerät kontrastreich. Hrůša und sein Orchester spielen mit dem Tempo und werden bei der Attacke am Ende geradezu wild.
„Z českých luhů a hájů“ heißt der nächste Teil, „Aus Böhmens Hain und Flur“. Hier bieten sich insbesondere den Holzbläsern wiederholte Gelegenheiten zu brillieren, wofür ihnen die Streicher einen Teppich … nein, nicht ausrollen, sondern eher zum Fliegen bringen.
Nach diesem vierten Teil, ursprünglich mal als Abschluss der sinfonischen Dichtung konzipiert, folgen dann noch die zwei Teile „Tábor“ und „Blaník“, die etwas martialischer und ernster ausfallen. Hier geht es vor allem um die protestantischen Hussiten und ein verborgenes Ritterheer des Heiligen Wenzel, das im Berg Blaník schläft – Friedrich Barbarossa und der Kyffhäuser lassen grüßen. Geprägt von einer markanten Rhythmik, bieten sich dennoch auch hier immer wieder feine Preziosen wie ein famoses Wechselspiel zwischen Horn und Oboe. Womit wir dann ja auch fast wieder eine Verbindung zum Beginn des Abends geschlossen hätten. Euphorischer Beifall am Ende.
Man merkt Dirigent und Orchester an, dass zu Smetanas Komposition ein besonderes Verhältnis besteht. Das ist auch kein Wunder, denn die Bamberger Symphoniker wurden 1946 von ehemaligen Mitgliedern des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag gegründet und Hrůša ist Tscheche. Hrůša bei dem Konzert zu beobachten, ist übrigens sehr unterhaltsam. Das soll nicht despektierlich gemeint sein – vielmehr ist es faszinierend, wie nicht seine Bewegungen, sondern auch sein Mienenspiel mit der Musik mitgehen, sie mitleben.
„Má vlast“ hat für die Tschechen eine ganz besondere Bedeutung, beschäftigt sich das Werk in seinen sechs Episoden doch mit vielen historischen, mythologischen, landschaftlichen und religiösen Aspekten einer Nation, die zu Smetanas Lebzeiten noch dabei, sich überhaupt wieder eigenständig zu formieren.
Gerade erst wurde mit „Ma vlast“ übrigens, wie in jedem Jahr, das Musikfestival „Prager Frühling“ eröffnet. 2019 hatten die Ehre, dieses Werk zu spielen: die Bamberger Symphoniker unter Jakub Hrůša. Das ist alles andere als ein Zufall. Und fügt sich letztlich stimmig in das Motto des Musikfests Hamburg, zu dem dieser Konzertabend gehört. Es lautet „Identität“. Die wechselvolle, konflikt- und spannungsreiche, immer wieder aber auch durch verbindende und versöhnende Bewegungen gekennzeichnete europäische Geschichte, sie lässt sich von vielen Andockpunkten aus erzählen und betrachten, die diese Aufführung und ihre Hintergründe bieten.
Guido Marquardt, 29. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de