Fazıl Say © Fethi Karaduman
Eine irritierende Klaviermatinee beim Beethovenfest.
Joseph Haydn (1732-1809) – Klaviersonate Nr. 35 Hob. XVI:35
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Klaviersonate Nr. 23 op. 57, Appassionata
Fazıl Say (*1970) – Gezi Park 2 op. 52
Fazıl Say, Klavier
Forum der Bundeskunsthalle, Bonn, 3. Oktober 2024
von Brian Cooper, Bonn
Es ist viel los beim Musikfest der Demokratie im Bonner Regierungsviertel: Man feiert 75 Jahre Grundgesetz, den ganzen Tag über laufen Veranstaltungen bei freiem Eintritt oder unter dem Motto „Pay what you can (Mindestpreis 5€)“. Das ist ebenso begrüßenswert wie die Beethovenfest-Mönkemeyer-Idee der Ticketpatenschaften für nachweislich Bedürftige, die hoffentlich künftig ausgeweitet werden kann.
Morgens um elf gibt der bedeutende türkische Pianist und Komponist Fazıl Say eine Klaviermatinee im Forum der Bundeskunsthalle (ganz guter Saal, wenn man vom Grundrauschen der Klimaanlage absieht). Das Motto ist „Meinungsfreiheit“, hierzu das Beethovenfest:
Für Fazıl Say zeugt die Musik von Haydn und Beethoven unter anderem von ihrem Mut zu unabhängigem Künstlertum. Sich künstlerisch frei zu entfalten, fällt in Deutschland übrigens unter die Meinungsfreiheit, den fünften Artikel des Grundgesetzes.
Say ist auch Bürgerrechtsaktivist, und das ist angesichts des Rahmens an diesem Tag der deutschen Einheit nicht ganz unwichtig, zumal in diesen Zeiten, und zumal das letzte der drei Werke ein eigenes ist, eine vor zehn Jahren uraufgeführte Klaviersonate mit dem Titel Gezi Park 2. Say legt sich gern mit dem Erdoğan-Regime an, beweist unbändigen Mut und schont sich nicht.
In Bonn allerdings schont er auch nicht den Steinway. Los geht’s mit Haydn, und so sehr ich seine CD-Einspielung mit fünf Haydn-Sonaten von 2006 schätze, darunter auch die in Bonn dargebotene Nr. 35, so schnell stellt sich doch eine gewisse Irritation ein.
Zunächst bin ich überrascht, wie bekannt mir die Sonate vorkommt. Say betont das Freche, Humorvolle, der Anschlag im Kopfsatz ist durchaus hart, im langsamen Satz dafür umso zarter, doch insgesamt irritiert massiv seine unnötige ausladende Gestik, nach dem Motto: „Hört Ihr, wie humorvoll Haydn ist? Moment, ich zeig Euch das nochmal mit meinen Gesten und meiner Mimik.“ Das Gesicht ist stets dem Publikum zugewandt, was zunächst nicht verwerflich ist.
Aber es steht doch alles in den Noten. Es ist alles in der Musik! In deren Dienst sich der eigentlich fabelhafte Pianist leider nicht stellt. Say spielt an diesem Morgen zwar auch Say, doch ist dies bei Haydn und Beethoven auch der Fall.
In der Appassionata geht das Ganze weiter. Zügig im Tempo, doch geradezu destruktiv erklingen die Akkorde, es wirkt wie die Karikatur eines ohnehin schon wegweisend revolutionären Werks. Say stampft mit den Füßen, singt wie weiland Glenn Gould. Natürlich gibt es bei Beethoven immer wieder diese einschlägigen Stellen, wo ihm – „das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ – nichts mehr einfällt, und hier verweilt der gute Ludwig stets auf einem Triller. Say unterstreicht das Ganze noch mit einem Gestenreichtum, der diese Stellen – wohlgemerkt: nicht die ganze Sonate – nicht interessanter macht.
Die Läufe sind virtuos, aber manches geht auch auf Kosten der Präzision. Das ist nicht per se verwerflich, wenn man beispielsweise an das Finale der d-Moll-Violinsonate von Brahms mit Patricia Kopatchinskaja denkt: so schmutzig, dass es aufregend ist, als höre man das Stück neu. Aber Say schludert in der Appassionata auch gewaltig. Der zweite Satz ist herrlich lyrisch, doch schon wieder kommen diese nervigen Gesten hinzu, er dirigiert sich gewissermaßen selbst: „Kinder, was hab ich Euch da wieder Herrliches serviert!“ Es ist eben Say, nicht Beethoven. Ist das clowneske Verhalten typisch für ihn, oder macht er’s wegen der vielen Kinder im Publikum? Die jedenfalls werden das Konzert lange nicht vergessen.
Man stellt sich schon den genialen Klavierstimmer Hans Giese vor, der im Dezember zur Pause des Kölner Say-Rezitals die Bühne betreten, möglicherweise den Kopf schütteln und zum Fazit gelangen wird: Nichts mehr zu machen, wir müssen amputieren. Trotzdem Jubel. Ich denke an Axt und Brennholz.
Ohne Pause geht es weiter mit dem eigenen Werk, das sich als Highlight dieser Matinee erweisen wird: Fazıl Say greift in den Flügel, dämpft die Saiten, es entstehen interessante Klangeffekte. Das Stück beginnt jazzig wie ein Werk von Kapustin, und man fragt sich allen Ernstes, ob das Singen hier dazugehört, Teil des Werkes ist. Dem Flügel ergeht es allerdings auch hier nicht besser, wiewohl einmal mehr die lyrischen Passagen beeindrucken.
Programmhefte gibt es diesmal ausschließlich in digitaler Form, und das ist bedauerlich. Zugleich ist bemerkenswert, wie wenig Menschen während des Konzerts zum Smartphone greifen. Allenfalls die schamlose Person, die in der ersten Reihe verbotenerweise filmt, wie auch die Dame in der Reihe vor uns, fallen negativ auf.
Mein Begleiter, eigens aus Bayern angereist, ist insgesamt angetan, und nach dem intensiven Konzert stellen wir beide unabhängig voneinander fest, dass wir uns zum Ende der Say-Komposition an das Finale aus Prokofjews 7. Klaviersonate erinnert fühlten.
Wirklich genial war die Zugabe, eine Improvisation über Gershwins Summertime, in der es durchaus auch zügige Passagen gibt, die in ihrer Virtuosität an Arcadi Volodos’ jüngst bei klassik-begeistert diskutierte Bearbeitung des Mozart’schen alla turca erinnern.
Dr. Brian Cooper, 3. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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