Foto: Daniel Dittus (c)
Elbphilharmonie, Kleiner Saal, 28. Mai 2018 (3. Internationales Musikfest Hamburg)
Benjamin Britten, The Rape of Lucretia,
Oper in zwei Akten, op. 37 (1945/46)
Luzia Tietze – Lucretia
Maxim Sankirov – Collatinus
Hussain Atfah – Tarquinius
Junggeun Choi – Junius
Lea Bublitz – Lucia
Milena Juhl – Bianca
Dorothee Bienert – Female Chorus (Erzähler)
Daniel Schiewa – Male Chorus (Erzähler)
Ensemble der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Ulrich Windfuhr – Leitung
von Ricarda Ott
Es ist die Geschichte von der tugendhaft treuen Lucretia im vorchristlichen Rom, die von Tranquilius, Sohn des etruskischen Herrschers, vergewaltigt wird und sich anschließend das Leben nimmt. Dass sie durch ihren Selbstmord die Befreiung der Stadt auslöst, macht sie gewissermaßen zu einer Märtyrerin; der antike Stoff, der sich seit Jahrhunderten durch Literatur, Dramatik und Malerei zieht, bleibt erschütternd zeitlos und spiegelt selbst im 21. Jahrhundert tief unter die Haut dringende Aktualität.
Benjamin Brittens (1913-1976) kleinformatige Kammeroper aus den Jahren 1945/46, am Montagabend aufgeführt von acht Sängerinnen und Sängern der Musikhochschule Lübeck und dem Ensemble der Hochschule für Musik und Theater unter der Gesamtleitung von Ulrich Windfuhr, berührt und lässt den Zuhörer betroffen zurück.
Ist es die barbarische Handlung, die Tatsache, dass es sich hier nicht bloß um fiktive Dramatik handelt, sondern um allgegenwärtige Realität? Oder ist es darüber hinaus Brittens Genius, menschliche Dramen, Empfindungen und Abgründe in unvergleichlicher Weise mit Klängen zu illustrieren?
Vielleicht entsteht die Kraft auch durch den vermeintlichen Widerspruch zwischen den so komplexen Themen der Handlung und der Forderung nach maximaler Klarheit des Ausdrucks in Brittens Musiksprache: er instrumentiert solistisch und gestaltet schlicht, scharf und ungemein intim.
So zum Beispiel vor der Vergewaltigungsszene, wenn im Orchester insistierend das berühmte absteigende „Lamento-Motiv“ erklingt, während die Damen um Lucretia inbrünstig „Gute Nacht“ wünschen. Oder wenn die beiden Erzähler während des sexuellen Übergriffs durch Tranquilius ein liebliches Duett anstimmen. Durch dieses Nebeneinanderstellen, dieses gegen- und gleichsam miteinander Wirkende wird die Tragik erst richtig deutlich.
Die Musikerinnen und Musiker – wie bereits gesagt: alle in Einzelbesetzung – geben dieses Werk mit der geforderten Spannung, Reibung und Präzision wieder. Sowohl die Streichergruppe mit wohlintonierter Klangfarbe und beeindruckender Brutalität im Ausdruck sowie die Bläser mit lyrischen, ungemein intensiven Passagen (besonders schön: Bassflöte und Bassklarinette im 2. Akt) als auch die Harfe mit sonderbaren, effektvollen Passagen und das Schlagwerk mit lautmalerischen, fast filmmusikalischen Effekten.
Auch die Sängerinnen und Sänger – alle noch in der Ausbildung und trotzdem schon mit reichlich Bühnenerfahrung – sind diesem Werk gewachsen. Als Trägerinnen und Träger der Handlung, als Verkörperungen dieser individuellen Charakterstudien prägen sie mit durchweg tollen Stimmen diese Aufführung. Beeindruckend dabei ist neben der guten Stimmführung und Technik vor allem die Bühnenpräsenz und die situative Anpassung des Stimmausdrucks der jungen Talente. Mitunter wird geflüstert oder geschrien, in Rezitativen gar gesprochen oder virtuos koloriert – alles mit überzeugender Wirkung.
Dorothee Bienert und Daniel Schliewa als Handlung kommentierende Erzähler können das nicht zuletzt durch den Umfang ihrer Rollen besonders eindrücklich beweisen: ihre Stimmen stellen sich als beeindruckend reif und wandelbar heraus, und ihnen gelingt gemeinsam mit Luzia Tietze als Lucretia auch die beste Textverständlichkeit.
Die Verständlichkeit des in englischer Sprache gesungenen Librettos von Ronald Duncan stellt vielleicht den einzigen Kritikpunkt des Abends dar. Ohne abgedrucktes Libretto im Programmheft oder eingeblendete Übertitel und eben aufgrund der größtenteils ungenauen Aussprache war es oft nicht möglich, dem Verlauf des Textes zu folgen – schade, er wäre es wert gewesen.
Fest steht dennoch: Ulrich Windfuhr, Leiter des Lehrstuhls für Dirigieren und Orchesterleitung an der HfMT Hamburg, entlockte den jungen Talenten an diesem Abend besondere Leistungen, die der künstlerischen Komplexität und darstellerischen Ernsthaftigkeit des Werkes mehr als gewachsen waren.
Erfreulich auch, dass das Konzert im Kleinen Saal der Elbphilharmonie stattfand: nicht nur durch die klare Akustik, sondern insbesondere durch die übersichtliche, ruhige Raumatmosphäre und die relative Nähe zu den Aufführenden wurde das Schicksal der Lucretia, nicht zuletzt aber auch diese berührende Komposition eines der wichtigsten Schöpfers von Vokalmusik im 20. Jahrhunderts in besonderem Maße erlebbar.
Ricarda Ott, 29. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de