Marstallcafé, München, 9./11./13./16./18. Mai 2023
von Frank Heublein
An allen Vorstellungsabenden außer der Premiere von „Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens“ finden direkt danach im Marstallcafé Nachgespräche über die Produktion statt. Die Produktion ist eine Fusion von Claudio Monteverdis Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ und den Memoiren Text Joan Didions „Das Jahr des magischen Denkens“. Meine Eindrücke zu dieser Produktion habe ich unter https://klassik-begeistert.de/ja-mai-festival-il-ritorno-das-jahr-des-magischen-denkens-cuvilliestheater-muenchen-7-mai-2023/ formuliert.
Das Sprechen über Kunst
Es ist besonders – warum eigentlich? –, dass es diese Nachgesprächsreihe gibt. Ich rechne es den ausführenden Künstlern hoch an, nach dieser intensiven Arbeit weiter aktiv zu bleiben und sich mit dem Publikum auszutauschen. Bei dem parallel stattfindenden Dance Festival in München sind solche Gespräche – Artists Talks – regelmäßig vor oder nach den Aufführungen terminiert und wurden bei den Produktionen, die ich gesehen habe, auch sehr gut angenommen. Warum nicht die Teilhabe des Publikums vergrößern, den Rahmen des Austauschs erweitern? Die beiden Intendanten jedenfalls sehen ihre Häuser als Orte von Debatten. Ich erbitte mehr davon.
Die Probengestaltung
Die Sänger und Sängerinnen des Opernstudios erläutern, dass der Probenprozess ungewöhnlich war. Zuerst hat sie der Prozess irritiert, dass sich der Regisseur in Einzelgesprächen Zeit nimmt, die Rolle mit dem Darsteller oder der Darstellerin zu erarbeiten, jenseits dessen, was die Musik vorgibt. Im Schauspiel sind solche Rollenerarbeitungen die Regel. Der moderierende Dramaturg Christopher Warmuth wirft ein, dass bei jedem und jeder einen Moment gab, in dem es sichtbar „klick“ gemacht habe, das Rollenverständnis sichtlich vertieft wurde. Im normalen Opernbetrieb liegt der Fokus auf der stimmlichen Erarbeitung der Rolle. Zuerst mit Repetitoren, dann in den wenigen Orchesterproben. Ich für mich sehe mich in vielen Anwesenden in Übereinstimmung: die Intensität der dargestellten Rolle ist hoch.
Die Kraft der Musik
Der eine Schauspieler und die zwei Schauspielerinnen erkennen in der Taktvorgabe der Musik einen atmosphärischen Strom, der Emotionalität lenkt. Diese Wirkung müssen sie als Sprechende aus ihrem eigenen Körper formen. In vielen Sprechtheaterstücken wird heutzutage – so Residenztheaterintendant Andreas Beck – Musik eingesetzt, doch ich erlebe für mich selten den atmosphärischen Strom der Musik als Wirk-Teilentlastung oder Wirkverstärker der Schauspielenden im Sprechtheater. Schauspielerin Canonica erkennt die Verletzlichkeit der Singenden im Moment des Singens und zollt dieser Entblößung großen Respekt. Ich merke mir für meine Rezensionen, diesen Respekt zu zollen.
Die Kraft der Gesten
Die Sängerinnen und Sänger haben erfahren, dass Oper die (zu) große Geste fördert. Das Schauspiel hingegen entwickelt Gesten aus innen heraus, sie wirken natürlich. Sibylle Canonica erzählt von einer Ansage des Regisseurs Rüping „Wenn Musik gespielt würde, solle sie sich „ganz natürlich“ bewegen“. Canonica hat dafür folgendes Bild: es sei für sie so, als stecke sie bis zur Hüfte im Pulverschnee und solle sich „natürlich bewegen“.
Gegenseitiges Öffnen von Sprache und Musik
Eine Qualität dieser Produktion liegt darin, dass Musik die Sprache öffnet und dann gibt es Momente, wo für alle Ausführenden nur Musik kommen kann. Für die Schauspielerin Wiebke Mollenhauer ist Musik eine andere Art Sprache, die Brücken entstehen lässt, die magische Momente erzeugt, dass aus den beiden Bestandteilen kein heterogenes nebeneinander existierendes, sondern homogenes Gemisch wird. Residenztheaterintendant Andreas Beck „zitiert“ seinen Autor und Dramaturgen. „So würde es Ewald Palmetshofer ausdrücken: wie vernäht man die Sprache (ich ergänze: und Gesang) mit dem Körper?“. Mag sich Andreas Beck vielleicht öfter mal Musiker ausleihen vom Opernhaus nebenan, um „andere Nähte“ produzieren zu können? Christopher Moulds erinnert, dass das Genre der Semioper unter anderem von Purcell genutzt wurde. Fünfzig Jahre vor Monteverdi war der Mix aus Sprache und Musik völlig alltäglich. Erst dann verdrängte in der Oper der Gesang die Sprache. Die Produktion „Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens“ hat also durchaus geschichtliche Anknüpfungspunkte.
Die Zusammenarbeit von Regisseur und Dirigent
Dirigent Christopher Moulds, zum Teil auch sein musikalischer Assistent – ich möchte besser dazu sagen: sein Compagnon – Roderick Shaw, und Regisseur Christopher Rüping haben sich vor drei Jahren auf den Weg gemacht. Einer der Leitfragen des gesamten Festivals wie auch der künstlerische Ausgangspunkt des Regisseurs Christopher Rüping ist die Frage „Festhalten oder Loslassen?“ Die führte Rüping zu Joan Didions Text. Wie Wiebke Mollenhauer es formuliert: die Oper als Sehnsuchtsraum lässt magisches Denken zu. In diesem Fall durch das absurde Analysieren Joan Didions.
Wie ein Stück entsteht
Sehr kurz vor intensiven etwa 10 Wochen dauernden Probenarbeiten bekamen die Sänger und Sängerinnen ihre Strichfassung. Die Regel am Haus der Bayerischen Staatsoper (und wahrscheinlich nicht nur dort) ist, dass für die sängerische Vorbereitung die stimmliche Rolle schon Monate vorher vorliegt und eingeübt werden kann. Sänger und Sängerinnen hatten auch ungewöhnlich früh und damit häufige szenische Proben, in denen die komplexe Rolle „Musik und was ist der innere Antrieb von meiner Rolle?“ erarbeitet wurde. Warum nicht also? Ein Opernhaus stellt das vor organisatorische Herausforderung. Die Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Dirigent, so empfinde ich es im Gespräch, war jederzeit auf Augenhöhe mit dem Wissen, dass der jeweils andere den eigenen Beitrag verbessern und verstärken kann.
Wer entscheidet, was gesprochen und gesungen wird
Im Schauspiel können die Ausführenden größeren Einfluss auf die gespielte Textfassung haben – wie in dieser Produktion, so erzählen es einhellig Schauspieler und Regisseur. Von den 200 Seiten wurden erst 60, dann 20 ausgewählt im Miteinander. Den Vorschlag der endgültigen Textfassung hat er als Regisseur erarbeitet. In der Oper haben die Ausführenden auf der Bühne in aller Regel keinen Einfluss darauf, was vom Libretto gesungen wird – auch hier in dieser Produktion war das so.
Was kann man für zukünftige Produktionen lernen?
Regisseur Rüping erkennt im Wiederfinden von Musik, der Partiturerarbeitung eine andere Struktur als die des „Überschreibens“, des Anpassens eines klassischen, historischen, alten Schauspieltextes, der damit in unserer Zeit verständlich gemacht wird.
Die Konzentration und Hingabe der Musiker und der Sänger in den Proben hebt er schätzend hervor. Eine anwesende Musikerin wirft von hinten ein, dass diese Atmosphäre maßgeblich durch Christopher Moulds geschaffen wurde. Das musikalische Führungsduo kann sich vorstellen, die Intimität auch in größere Säle als dem Cuvilliés-Theater zu erschaffen. Die Grundlage, damit Intimität musikalisch entstehen kann, liegt im geradezu blinden Vertrauen, das aus zwanzigjähriger Zusammenarbeit des – kleinen – barocken Ensembles des Bayerischen Staatsopernorchesters gewachsen ist.
Ist die Oper weniger risikofreudig als das Schauspiel?
Warum nicht mehr Projekthaftes wagen? Im strukturellen Vergleich Residenztheater zu Staatsoper in München wird klar: die Struktur der Oper ist weniger agil. Bei Großproduktionen wie „Krieg und Frieden“ sorgen etwa 600 Personen der bayerischen Staatsoper für das Gelingen eines einzigen Abends. Die Disposition dafür findet bereits vier bis fünf Jahre vorher statt. Organisatorisch ist die Oper ein Flugzeugträger, so formuliert es Schauspielintendant Andreas Beck und sein Residenztheater eine kleine Fregatte. Wichtig zu wissen, das „Resi“ ist kein kleines Haus, ganz im Gegenteil: mit dem Burgtheater in Wien eins der zwei größten deutschsprachigen Schauspielhäuser.
Planungshorizonte
Staatsopernintendant Dorny fragt sich selbst, ob wirklich alles drei bis fünf Jahre vorgeplant werden müsse. Ich unterstütze das. Ich glaube an die Möglichkeit, weiterhin einige wenige ausgewählte Produktionen pro Spielzeit mit kürzeren Vorläufen zu organisieren. Die regelmäßige Verpflichtung von Sänger und Sängerinnen drei bis fünf Jahre im Voraus ist ein Hindernis. Die spezielle Rollenerarbeitung ein weiteres. Sie lässt einen Austausch der Ausführenden quasi nicht zu. Sonst sind Einspringer im Opernbetrieb normal, zuweilen kann gerade dieses Einspringen eine Karriere befeuern.
Das Labor, wie Dorny das Ja, Mai Festival nennt, macht kommende Spielzeit Pause. Ich hoffe, Serge Dorny findet (Geld-)Mittel und Wege – Wille und Interesse zeigt er im Gespräch –, diesen Gegenpol zum Repertoire aktiv zu halten für die Staatsoper. In seinen Worten: er hat „Nostalgie für die Zukunft“. Andreas Beck steigt in sein Nachgespräch ein und erzählt aus seiner früheren Erfahrung als Intendant des Dreispartenhauses in Basel. Aufgrund der unterschiedlichen Vorlaufzeiten sei eine regelmäßige Zusammenarbeit der unterschiedlichen Sparten fast nicht möglich. Wenn Serge Dorny ihm eine Idee vortrage, dann käme die für ihn ein bis zwei Jahre zu früh. Die Oper denkt drei bis fünf Jahre voraus, das Schauspiel nur ein bis zwei Jahre.
Und doch: hier hat es hervorragend geklappt. Ich erbitte von beiden Intendanten den Mut, es weiter zu wollen und zu ermöglichen. Ich hätte dafür eine Leitfrage für Sie beide: warum nicht?
Organisation und Finanzen
Hinzukommt, dass das Ja, Mai Festival ein organisatorischer und finanzieller Kraftakt ist. Organisatorisch wie Christopher Warmuth ausführt, da über zwei Drittel der Mitarbeitenden in den unterschiedlichen Gewerken und Abteilungen für die zwei Produktionen plus der „Aida“-Premiere gebunden sind. Für das restliche Drittel ist das gesamte Repertoire ein dickes Arbeitsbrett. Finanziell, da die Produktionen in vergleichsweise kleinen Spielorten aufgeführt werden. Bei „Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens“ entschied man sich für vergleichsweise günstige Kartenpreise mit niedrigen 55 € in der teuersten Kategorie. Ein Sechstel der Karten wurde in der Stadt per QR Code für die Diversifizierung des Publikums investiert. Die restlichen Karten waren nach wenigen Stunden über die üblichen Wege des schriftlichen, telefonischen und Onlinevorverkaufs ausverkauft.
Ist dieser Mix für ganz große Bühne geeignet?
Kann diese Art „Fusionskunst“ auf größere Bühnen übertragen werden? Regisseur Rüping meint, generell ja, die spezielle Produktion nicht, denn er inszeniere für Räume und also hier für das Cuvilliés-Theater. Er verspürt ein Interesse an solchen Produktionen. Auf Publikumsnachfrage wird klargestellt, dass es nicht um „das neue Inszenieren aller Opern“ generell geht, sondern um die Ergänzung der bestehenden Formate. Ich ergänze: eine Ergänzung, die die Oper als Kunstform zu verändern in der Lage ist. Ich glaube, die Oper kann nicht nur Festhalten am Bestehenden, sie muss die unausweichliche Veränderung nicht ertragen, sondern produktiv nutzen. So sehr ein Teil des Publikums die Erinnerung an die frühere bessere schöne qualitativ hochwertige Zeit zurücksehnt. Ich persönlich traue meinem Gefühl (ich habe es zuweilen durchaus) des „früher war es besser“ nicht mehr über den Weg. Lieber Leser, liebe Leserin, haben Sie nicht schon verstaubte Produktionen gesehen?
Warum es sich lohnt, eine Produktion mehrfach zu besuchen
Mir gibt musikalischer Compagnon Rod Shaw einen Grund, Produktionen öfter anzusehen: für ihn war jeder Abend anders, denn an jedem Abend ist das Publikum ein anderes. Damit verändert sich das Erleben, die Reaktion der Ausführenden darauf. Für mich ist der dieser Publikums- Musikerkontakt spürbar. In den schönsten Momenten meiner Kunstwahrnehmung wie es diese Produktion einer war für mich, erspüre ich mich als Teil aller Zuschauenden, die wie ich glaube „gleichgerichtet“ fühlen. So beginnt die Resonanz zu den Ausführenden zu knistern, der Funke springt über, die künstlerische Energie breitet sich im Saal aus.
Wer hat das Recht auf Interpretation, was eine Person sieht und empfindet bei Kunstrezeption
Ich möchte eine Aussage des Ballettchoreografen Richard Siegal aus seinem Publikumsgespräch im Rahmen des Dance Festivals aus meiner Erinnerung zitieren. Er sagte es auf Englisch auf die Frage, ob denn die Wahrnehmung eines Zuschauers zutreffe (der Zuschauer führte diese aus): „Ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, Ihre Interpretation meines Stücks zu korrigieren.“ Er hat sein Werk in diesem Sinne losgelassen. Was das Publikum erkennt, welche Schlüsse es zieht, hat sehr viel mit dem Moment zu tun, der Rahmung – sowohl des Stücks, des Abends, der Besucher. Ich lerne einmal mehr: was das Stück mit mir macht, gehört mir selbst. Es gibt kein falsch oder richtig. Gegenseitige Bevormundung, die der Künstler in Richtung Publikum und umgekehrt, ist für mich fehl am Platz.
Das Sprechen über Kunst
Die Reibungsfläche, warum sehe ich oder du-Sie es anders? will ich konstruktiv nutzen im Begreifen der Möglichkeiten. Ich erinnere an Musils Mann ohne Eigenschaften: „Wenn es Wirklichkeitssinn sind, muss es auch Möglichkeitssinn geben“. In der Kommentarfunktion unseres Blogs lade ich Sie, liebe Leser und Leserinnen, ein: lassen Sie mich das aus meiner Sicht So-hätte-es-auch-sein-können, das aus Ihrer Sicht „So-habe-ich-es-erlebt“ auseinandersetzen.
Frank Heublein, 21. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Di 09.05.23
Interdisziplinäres Arbeiten mit der Stimme
Mit: Xenia Puskarz Thomas, Granit Musliu, Liam Bonthrone, Roman Chabaranok
Do 11.05.23
Performance und Schauspiel
Mit: Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz
Sa 13.05.23
Musik im Schauspiel
Mit: Sibylle Canonica
Di 16.05.23
Kulturinstitutionen der Zukunft
Mit: Andreas Beck, Serge Dorny
Do 18.05.23
(De)Konstruktion von Musiktradition
Mit: Christopher Moulds, Roderick Shaw und Christopher Rüping