Jessica Niles (Sandra) © Stephan Rabold
Die Vergangenheit liegt vor uns: Cassandra zeigt an der Staatsoper Berlin, dass die großen uralten Mythen ewige Menschheitsthemen behandeln und deshalb zeitlos sind. Sie gehören deshalb in eine zeitgenössische Oper und es ist nur folgerichtig, dass diese wiederum sich auf Musiktraditionen bezieht. Beispielsweise auf den sogar ausdrücklich erwähnten Johann Sebatian Bach.
Cassandra
Oper in dreizehn Szenen und einem Prolog (2023)
Musik von Bernard Foccroulle
Libretto von Matthew Jocelyn
Staatsoper Unter den Linden, 19. Juni 2025 PREMIERE
Musikalische Leitung: Anja Bihlmaier
Staatskapelle Berlin
Inszenierung, Video: Marie-Ève Signeyrole
Szenische Einstudierung: Sandra Pocceschi Bühne: Fabien Teigné
Kostüme: Yashi
Licht: Philippe Berthomé
von Sandra Grohmann
Alte Mythen mit zeitgenössischen Themen zu verknüpfen, ist riskant. Allzu leicht wirkt der Bezug bemüht, die Spiegelung verzerrt, die Erzählung verkrampft. Auch die Inhaltsangabe der von 2023 stammenden Oper Cassandra lässt kaum Vorfreude aufkommen. Die Themen Klimakatastrophe, Mutterschaft und Ausbeutung der Antarktis lassen den geneigten Opernbesucher durchaus befürchten, eine Stunde und fünfzig Minuten lang einen pausenlos erhobenen Zeigefinger ertragen zu müssen.
Aber! Aber! Der Abend funktioniert. Das liegt vor allem daran, dass die Storyline heutige Themen aufnimmt, jedoch kein ideologisches Plädoyer hält. Die Moral der Geschicht’ ist zum einen nicht der Klimawandel, sondern das Zuhören. Dafür steht die aus Homers Ilias bekannte Figur der Cassandra: Niemand hört zu. Cassandra kann als Seherin die Zukunft beschreiben, aber niemand glaubt ihr. Es ist ein Thema, das nicht nur im politischen Raum, sondern für unseren Alltag wesentlich ist.
Der operntypisch eher schmale Text reiht sich überdies in alles ein, was große Oper ausmacht: Die Vermittlung tiefer Eindrücke zu ewigen Themen auf einer anderen als intellektuellen Basis, nämlich durch Musik, Bild und Schauspiel. Und diese drei präsentieren sich am Premierenabend in der Staatsoper Unter den Linden in fesselnder Weise.

© Stephan Rabold
Da ist zunächst die Musik selbst. Wer in seinem Leben auch mal was Anderes als Wagner und Verdi zu sich nehmen möchte, muss nicht auf Barockopern zurückgreifen. Nichts gegen ein paar Händel-Schnörkel, doch auch der Farbenreichtum und die überreichen Bezüge zeitgenössischer Musik lassen sich gut hören. Dass Foccroulle überdies Bach zitiert und die Klimaforscherin Sandra uns fragt, ob wir uns eine Welt ohne Bach vorstellen können (natürlich nicht), mag vordergründig darauf beruhen, dass das Bach-Schelfeis in der Antarktis den Komponisten dazu inspiriert hat. Doch ein Opernstoff, der die Seherin Cassandra und die Forscherin Sandra zusammenführt, wird natürlich durch die Inbezugnahme sogenannter Alter Musik besonders gut untermalt.
Auch die Klangfarben von Saxophon und Marimbas, die gekonnt gegeneinander gesetzten düstern Ausrufe und heiter wirkenden Tanzorchester-Parodien machen den Abend gut hörbar.

Nicht zu schweigen von den scheinbar mühelos geführten, makellosen Sopranen von Jessica Niles als Sandra und Sarah Defrise als deren Schwester Naomi, die beide halsbrecherische Intervalle und mit vollen Spitzentönen singen, als wäre es nichts.

Im Kontrast dazu der rauchig-warme Mezzo/Alt von Katarina Bradić in der Titelrolle, die den unübersetzbaren original-homerischen Klageruf „Ototoï popoï da“ schmerzhaft ins Publikum schleudert. Im Duett der schließlich aufeinandertreffenden Spiegelfiguren Cassandra-Sandra wollen die Stimmfarben einen kurzen Moment nicht zueinander passen, finden sich dann jedoch und die Beiden erkennen einander szenisch wie stimmlich. Manchmal ist es musikalisch eben sogar spannungsvoller und damit stimmiger, sich einen Moment lang zu verpassen.

Beeindruckend auch der warme tiefe Bariton von Gidon Saks in der Rolle beider Väter (Priam/Alexander) und der strahlendere Bariton von Joshua Hopkins als zutiefst ekelerregender Gott Apollo und wütender Zuhörer. Etwas weniger nimmt der Tenor Valdemar Villadsen als Sandras Freund Blake stimmlich gefangen; Susan Bickley in der Rolle beider Mütter (Hecuba/Victoria) bietet zuverlässige Mezzotöne.

Schauspielerisch ist die gesamte Truppe ein Hochgenuss. Dass wir heute weit weg sind vom Rampensingen und Sängerschauspieler auf der Bühne erleben dürfen, ist vor allem für zeitgenössiche Werke ein Glück.
Im Grunde sind wir mit Abenden wie diesem wieder nah bei den Ursprüngen der Oper. Damals wollte man die Antike wiederbeleben. Denn im antiken Theater wurden Schauspiel und Musik, so nahm man an, miteinander verbunden. Und wie in den Anfängen der Oper antike Stoffe vertont wurden, so stehen sie auch heute wieder im Zentrum des Interesses, neu interpretiert, mit neuen Themen verknüpft.
Die Vergangenheit liegt eben vor uns.
Sandra Grohmann, 21. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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