Meuterei beim Hamburg Ballett? Die Offiziere gehen von Bord

Betrachtung: Kündigung von 5 Ersten Solisten des Hamburger Balletts  Hamburgische Staatsoper, 18. April 2025

Madoka Sugai und Alexandr Trusch 2017 (Don Quixote) und 2024 (Schwanensee) (Fotos: RW)

Was macht die Weltgeltung des Hamburger Balletts aus? Sicher nicht die austauschbaren, auf die Bühne gehobenen Mehrteiler und auch kaum die Handlungsballette anderer Choreographen. Die Weltgeltung basiert vielmehr auf dem unerschöpflichen choregraphischen Schatz, den John Neumeier hier hinterlassen hat und auf den von ihm gehegten und gepflegten phantastischen Tänzerinnen und Tänzern.

Eine Betrachtung von Dr. Ralf Wegner

Als Meuterei bezeichnet man im Allgemeinen den gemeinschaftlichen Widerstand gegen eine Anordnung der Schiffsführung mit Androhung oder Anwendung von Gewalt. Die Kündigung von 5 Ersten Solisten beim Hamburg Ballett ist demzufolge keine Meuterei, denn es wurde sich weder gemeinschaftlich einer Anordnung widersetzt noch Gewalt angedroht.
Dennoch führt der plötzliche Abgang der Mehrzahl der Ersten Solisten, die man im Vergleich mit der Seefahrt als Offiziere bezeichnen könnte (neben der Mannschaft wären die Solisten dann Unteroffiziere), den seit einem halben Jahrhundert auf See problemlos navigierenden Tanker des Neumeier-Balletts in Untiefen, welche die Gefahr des Schiffbruchs in sich bergen.

Vielleicht ist es auch so, dass die Offiziere die Untiefen unter der neuen Schiffsführung voraussahen und deshalb von Bord gehen wollen. Noch sind sie ja da, die fünf, im besten Tänzeralter stehenden Abtrünnigen Madoka Sugai (30), Alexandr Trusch (35), Christopher Evans (30), Jacopo Bellussi (32) und Alessandro Frola (24), aber man scheint nichts gegen ihren Weggang unternehmen zu wollen.

Dabei handelt es sich nicht um zeitweilig zur Truppe hinzugestoßene Tänzerinnen oder Tänzer wie etwa Atte Kilpinen, sondern um weitgehend aus der Neumeierschen Ballettschule mittels langjähriger Hege und Pflege zur prächtigen Blüte herangereifte Eigengewächse. Diese Eigengewächse prägen den Charakter des Hamburger Balletts. Nur Madoka Sugai gelangte 2014 über das Bundesjugendballett zum Hamburger Ensemble und Jacopo Bellussi kam 2012 vom Bayerischen Staatsballett II. Beide wurden aber entscheidend von Neumeiers Ballettmeistergarde unter dem Ersten Ballettmeister Kevin Haigen geprägt.

Kevin Haigen zählte zu den herausragenden Ersten Solisten in den 1970/80er Jahren in Hamburg und tanzte alle großen Neumeierrollen. Nach einer Zwischenzeit mit Ausbildung zum Ballettmeister kehrte 1991 nach Hamburg zurück und hatte als Erster Ballettmeister einen wesentlichen Einfluss auf das Ballett-Training im Sinne einer Förderung des individuellen Ausdrucks, aber ohne technische Aspekte zu vernachlässigen. Eine der Gründe für mögliche Querelen mit den Ersten Solisten mag auch der von Demis Volpi als neuer Erster Ballettmeister verpflichtete, mit John Neumeiers Werk und seinen Intentionen vermutlich weniger vertraute Damiano Pettenella sein. Vielleicht gibt es aber auch andere Gründe, zum Beispiel die Reduzierung der Neumeier-Werke auf der Bühne.

Die Kündigung der fünf Ersten Solisten liegt wohl kaum daran, dass sie nicht mehr in Neumeier-Balletten auftreten wollen oder sich klassischen Versionen wie Nurejews Don Quixote zu verweigern gedenken.

Jacopo Bellussi und Christopher Evans 2024 (Anna Karenina), Alessandro Frola 2025 (Tod in Venedig) (Fotos: RW)

Aus Zuschauersicht fällt auf, dass bei den von Demis Volpi auf die Bühne gebrachten Mehrteilern The Times are Racing sowie Slow Burn etwas fehlt: Die individuelle Sicht der jeweiligen Tänzerin oder des jeweiligen Tänzers auf die ihr oder ihm zugewiesene Rolle. Ob Madoka Sugai und Silvia Azzoni in Aszure Bartons Slow Burn mit dem Kopf wackeln oder andere Tänzerinnen, spielt praktisch keine Rolle. Silvia Azzoni gelang es zwar in einem sehr kurzen Pas de deux mit Jack Bruce etwas von ihrer interpretatorischen Kompetenz zu zeigen, das reichte aber nicht, um einen ganzen Ballettabend zu tragen.

In John Neumeiers Odyssee sind nahezu 30 Rollen namentlich benannt, die den jeweiligen Tänzerinnen und Tänzern die Möglichkeit geben, ihre eigene Persönlichkeit in die Darstellung einzubringen. Und das gilt nicht nur für die Odyssee, sondern für alle Neumeier-Ballette. Man denke nur an die Rolle der blinden Mutter in Giselle oder an Bianca, der Hure in Mantua in Romeo und Julia. Beides sind kurze Partien, die aber von den Hamburger Tänzerinnen unvergesslich mit Charakter und Gefühl aufgeladen wurden, man denke nur an Niurka Moredo oder Ida Stempelmann in der wirklich kurzen Partie der Bianca.

Gerade deswegen liegen uns unsere Hamburger Tänzerinnen und Tänzer so am Herzen, weil sie ihre ureigene Persönlichkeit in die Rollen einbringen können. In den Mehrteilern dieser Saison schienen sie verheizt, und es war traurig, so großartige Tänzerpersönlichkeiten wie Emilie Mazon auf dem Boden kriechend zu sehen oder anzuschauen, wie sich Anna Laudere mit den Anforderungen einer jungen Gruppentänzerin begnügen musste.

Und es scheint zuzunehmen. Während in dieser Saison noch etwa Zweidrittel der Aufführungen Neumeierkreationen gelten, sinkt dieser Anteil in der Saison 2025/26 auf gerade mal 40%. Dafür nimmt die Zahl der Mehrteiler von ca. 20% auf gut 30% zu. Und die klassisch fordernden Produktionen fehlen völlig; abgesehen vom weihnachtlichen Nussknacker. Denn die Kasse muss ja irgendwie auch stimmen. Weder wird es Dornröschen, noch den Schwanensee geben, auch nicht Neumeiers geniale Giselle-Choreographie.

Was wird aus seinem Erbe? Ein nachdenklicher John Neumeier bei seiner letzten Nijinsky-Gala 2024

Alessandra Ferri hat für Wien verkündet, wie zu lesen ist, das dortige Ballett an die Spitze der klassisch orientierten Compagnien zu führen. In seiner jetzigen Zusammensetzung kann das Hamburger Ensemble noch mithalten, und die Neumeier-Ballette werden sowieso von den Hamburger Tänzerinnen und Tänzer am überzeugendsten aufgeführt. Aber wie lange noch?

Was macht die Weltgeltung des Hamburger Balletts aus? Sicher nicht die austauschbaren, auf die Bühne gehobenen Mehrteiler und auch kaum die Handlungsballette anderer Choreographen. Die Weltgeltung basiert vielmehr auf dem unerschöpflichen choregraphischen Schatz, den John Neumeier hier hinterlassen hat und auf den von ihm gehegten und gepflegten phantastischen Tänzerinnen und Tänzern.

The Thing with feathers und Slow Burn konnte man sich einmal anschauen, es waren keine verlorenen Abende, aber wie viele Male in den nächsten Jahrzehnten? Neumeiers große Handlungsballette verlieren dagegen auch nach dem 10. oder 20. Sehen nichts von ihrer Aktualität. Immer wieder ist Neues zu entdecken. Und mit unterschiedlichen Besetzungen, mit jeder neuen Generation von Tänzerinnen und Tänzern werden seine zeitlosen, nicht der aktuellen Mode unterworfenen Stücke wieder zum Leben erweckt. Das macht sich an der Kasse bezahlt. Denn es ist ein Unterschied, ob die Hamburger und auswärtigen Ballettfans im Laufe der Jahre sich nur einmal Slow Burn oder zum 10. Mal Neumeiers Dornröschen oder seine Kameliendame ansehen.

Vom Kapitän, dessen Offiziere von Bord gehen, hat man bisher nichts zu dem gravierenden Problem beim Hamburg Ballett gehört, und auch der Reeder scheint dem tatenlos zuzusehen. Steuert um, versucht Madoka Sugai und ihre männlichen Begleiter noch zu halten. Alessandro Frola hat aber bereits, wie zu hören ist, ein neues Engagement in Wien bei Alessandra Ferri, der Truppe mit dem Ziel, an der Weltspitze mitzutanzen.

Dr. Ralf Wegner, 18. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Odyssee, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, 11. April 2025

Anna Karenina, Ballett von John Neumeier Staatstheater Stuttgart, 14. März 2025 PREMIERE

Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier Die zweite Besetzung, Staatsoper Hamburg, 12. Februar 2025

5 Gedanken zu „Betrachtung: Kündigung von 5 Ersten Solisten des Hamburger Balletts
Hamburgische Staatsoper, 18. April 2025“

  1. Ich habe mit 2025/26 die dritte Spielzeit vor mir.
    Während ich sowohl in der Ballett-Werkstatt als auch Klassikern wie Odyssee oder die Nijinsky-Gala von den Inszenierungen bzw. der Persönlichkeit John Neumeier (Ballett-Werkstatt) sowie einzelnen Tänzerinnen und Tänzern emotionale Ergriffenheit erleben konnte, blieb dies mit Demis Volpi und Aszure Barton bisher leider aus.
    Nun kann es daran liegen, dass etwas total Neues auf den Weg gebracht wurde, allerdings besorgt es mich sehr, dass die oben genannten Tänzerpersönlichkeiten der Compagnie den Rücken kehren wollen.
    Nach meiner Meinung sind individuelle und herausragende Größen in der Kunst unerlässlich. Sie sind beeindruckend, Vorbild für die ganze Compagnie und lassen ein Werk für lange Zeit lebendig bleiben beim Zuschauer.
    Ansonsten bleibt es bei der Farbe Orange/Rot (Slow Burn) und einer gleichförmig agierenden Menge.

    Regina Baymak

  2. Sehr geehrte Frau Baymak,
    Sie haben vollkommen recht mit Ihrer Meinung, dass individuelle und herausragende Größen in der Kunst nicht nur unerlässlich sind, sondern auch als Vorbild für die ganze Compagnie dienen. Dem wird vermutlich auch Demis Volpi grundsätzlich zustimmen. Vergessen wird dabei aber, dass solche herausragenden Größen sich einem publizistisch geforderten frischen Wind beim Hamburger Ballett entziehen können und in die ganze Welt abwandern, wie Alessandro Frola bald nach Wien. Es reicht ihnen offenbar nicht, sich von einem frischen Wind bepusten zu lassen. Ganz abgesehen davon, wenn jetzt beim Hamburg Ballett ein frischer Wind wehen sollte, wird vergessen, dass die letzten Jahrzehnte vergleichsweise Orkan um Orkan die Hamburger Ballettbühne getroffen hat.

    Ich denke, im Kulturbereich gewinnen Kräfte die Oberhand, denen Genialität und spitzenmäßige tänzerische Leistungsfähigkeit immer suspekt waren, und die geradezu nach nur mäßig wehendem Wind gieren oder, so steht es in einer Hamburger Lokalzeitung, die Compagnie ästhetisch fit für die Zukunft sehen wollen. Für welche Zukunft? Wohl für jene, die an der Weltspitze des klassischen Tanzes keine Chance haben wird. Hoffen wir, dass ich damit falsch liege.

    Ihr Ralf Wegner

    1. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Beitrag, sie haben so recht. Leider ist das Kind nun in den Brunnen gefallen, unsere wunderbaren Lieblingstänzer bekommen wir nicht zurück. Herr Volpi hat ganze Arbeit geleistet.

      Andreas Niemann

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