Foto: Boston Symphony Orchestra / Andris Nelsons © Marco Borggreve
Elbphilharmonie Hamburg, 5. September 2018
Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
Baiba Skride, Violine
Leonard Bernstein
Serenade nach Platons »Symposion«
Dmitri Schostakowitsch
Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43
von Sebastian Koik
Jetzt sind sie alle in nicht einmal 21 Monaten in der Elbphilharmonie aufgetreten: die Big 5, die renommiertesten fünf Orchester aus den USA. Und neben dem Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti, hinterlässt das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons den stärksten Eindruck – und schenkt dem Publikum eines der beeindruckendsten Konzerte überhaupt in der glorreichen jungen Geschichte des Musik-Tempels im Hamburger Hafen.
Dmitri Schostakowitschs 4. Sinfonie wird am 5. September 2018 in der Elbphilharmonie unter den Händen von Andris Nelsons zu einer Offenbarung.
Jeder im Saal sieht, hört, versteht, dass gerade etwas Besonderes passiert. Das Boston Symphony Orchestra beeindruckt mit einer geradezu unfassbaren Schärfe im Spiel, die Musik der Schostakowitsch-Sinfonie wird so zu einem körperlich erschütternden, ja fast gewalttätigen Erlebnis. Die US-amerikanischen Gäste spielen mit fast brutaler Energie und Biss. Das ist von einer Kraft, Unmittelbarkeit und Dringlichkeit, die jeden angeht und keinen kalt lässt.
In jedem Moment der ca. 68 Minuten Spielzeit der Sinfonie spürt man deutlich: Der Dirigent versteht die Komposition bis ins letzte Detail. Man könnte fast meinen, dieser leidenschaftliche Mann am Pult sei der Komponist des Stücks, so gnadenlos wichtig ist es ihm.
Der Vortrag des Boston Symphony Orchestras unter Andris Nelsons ist eine Machtdemonstration. Die Musik ertönt einerseits kraftvoll, aggressiv und voller Energie, andererseits aber auch total kontrolliert, durchdacht und durchleuchtet mit größter Aufmerksamkeit bis in die kleinsten Details. Jeder sieht und spürt: Dieser Andris Nelsons ist ein Musik-Besessener, ein Perfektionist, ein Mann, der aufs Ganze geht und in der Kunst alles will. Nicht nur in den Details jeden Moments, sondern auch im Hinblick auf die existentielle Reise durch das große Ganze behält Nelsons den vollen Durchblick und navigiert in Idealspur durch die große, komplexe Sinfonie.
Alleine schon Nelsons bei der Arbeit zuzusehen ist das Eintrittsgeld wert, zu sehen, wie er jedes Detail im riesengroßen Orchester kontrolliert und zur qualitativen Spitze treibt. Jede Geste des Letten ist von gewaltigem Ausdruck und es geschieht dann im Großen wie im Kleinen genau das, was er will.
Zwischenzeitlich denkt man: Wenn dieser auf dem Programmheft so unendlich herzlich lächelnde und strahlende Mann die Weltherrschaft wollte, so könnte er sie vielleicht tatsächlich erringen. Seine Führung ist unwiderstehlich. Doch zum Glück hat dieser geniale Charismatiker nur künstlerische Ziele. Das Maximale aus einer Komposition herauszuholen und einer der allerbesten Dirigenten des Universums zu sein ist ihm genug. Im jungen Dirigenten-Alter von 39 ist Nelsons bereits mehrjähriger Chefdirigent und Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra, sowie zusätzlich neuer Gewandhauskapellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters – und leitet damit zwei der fünfzehn besten Orchester der Welt.
Die Präzision der US-amerikanischen Spitzenmusiker beeindruckt: Auch in schnellsten und technisch anspruchsvollsten Passagen ist das Orchester hoch präzise. Ob in gewaltigen Tutti-Gewittern oder in herrlich zarten leisen Stellen: Ständig wirkt das Orchester unter Nelsons sensationell souverän. Jede technische Herausforderung, jeder künstlerische Gipfel wird mit einer erstaunlichen scheinbaren Leichtigkeit bewältigt.
Diese knapp 70 Minuten Schostakowitsch unter Nelsons sind in jedem Moment von einer unfassbaren Intensität und Spannung. Das Publikum hält den Atem an. Im die ganze Bühne ausfüllenden großen Orchester gibt es keinen Makel. Es ist prachtvoll-perfektes Musizieren von allen Holz- und Blechbläsern, den Perkussionisten und den Streichern. Die Musiker überwältigen, reißen mit, spielen wahnsinnig gut. Nach massiven lauten Stellen wird es irgendwann plötzlich ganz ruhig. Man weiß nicht, was einen erwartet. Auch diese Stille ist voller Intensität.
Sehr lange wird man auf die Folter gespannt, erträgt die Spannung kaum noch. Man rechnet mit einem neuen Ausbruch, mit einem finalen Gewitter und ultimativer Zerstörung. Stattdessen verklingt die Erwartung in nichts. Das ist noch brutaler, als das erwartete letzte Gewitter. Implosives Verstummen statt Explosion.
Danach ewig lange Stille. So lange, wie vielleicht noch nie zuvor in der Elbphilharmonie. Lange bleibt das Publikum still, erschüttert, ehrfürchtig.
Andris Nelsons hat nicht nur seine Musiker perfekt im Griff, sondern auch das Publikum. Nach der langen ehrfürchtigen Stille bricht sehr, sehr langer Applaus und Jubel aus.
Ein Höhepunkt im ersten Teil des Abends mit Leonard Bernsteins Serenade nach Platons »Symposion« ist das Adagio des vierten Satzes. Das Orchester spielt zauberhaft zart und ätherisch. Das Streicher-Kollektiv klingt berückend schön. Der Vortrag des Orchesters und der Violin-Solistin Baiba Skride ist perfekt. Die Musik ist bald erfüllt von einer immensen Intensität. Permanent klagt, schreit, weint die Geige der Lettin Baiba Skride. Ihr sensibles Spiel ist stark, wunderbar fein, ätherisch, fragil und höchst verletzlich.
Sebastian Koik, 6. September 2018, für
klassik-begeistert.de