Die Jazzfamilie – Arm in Arm stehen da die vier Krawattenträger und winken ins Publikum

Branford Marsalis Quartet, »The Secret Between the Shadow and the Soul«,  Laeiszhalle,  4. April 2022

Foto: Branford Marsalis Quartet, (c) Eric Ryan Anderson

Laeiszhalle,  4. April 2022

Branford Marsalis Quartet
Programm »The Secret Between the Shadow and the Soul«

Branford Marsalis saxophone
Joey Calderazzo piano
Eric Revis double bass
Justin Faulkner drums

von Nikolai Röckrath

Wer an diesem Montag-Abend die auf die Bühne gerichteten Augen etwas zukneift und damit die pompöse, aber leider nur spärlich gefüllte Laeiszhalle auszublenden vermag, kann sich für einige Zeit als persönlicher Gast in Branford Marsalis‘ Musikzimmer fühlen. Verträumt und geordnet stehen da in gedimmtem Licht die glänzenden Instrumente in Reih und Glied, es liegt etwas wohlig erwartungsvolles in der Luft. Fast schon beiläufig und ins Gespräch versunken betreten der Saxophonist des bereits 1986 gegründeten Quartetts und seine langjährigen Weggefährten Joey Calderazzo (p), Eric Revis (b) und Justin Faulkner (dr) diese Szenerie und lassen sich an ihren Instrumenten nieder.

Umso abrupter und gewaltsamer jedoch wird diese Wohlfühlatmosphäre bereits mit dem Erklingen der ersten Töne zerrissen und das Blickfeld geweitet. Nein, wir befinden uns nicht in Marsalis‘ Wohnzimmer und auch nicht im verrauchten Jazzkeller von nebenan. Das hier ist viel größer und irgendwie unpersönlicher. Und so ziehen die elektrisch ausgedünnten Klangwolken aus Thelonious Monks‘ wilden Auftaktstück „Teo“ geradezu unterkühlt steril über das Parkett hinweg. Fast schon möchte man geschlossen umziehen in den kleinen Saal des Konzerthauses, um sich von dem Klang durchströmen zu lassen, einen hölzernen – oder meinetwegen blechernen Lufthauch aus Marsalis‘ Saxophon zu erspüren, etwas mehr Intimität mit den Musikern erleben zu dürfen.

Auf der Bühne indes zeigt sich ein Bild betonter Lässigkeit, kindlicher Freude am Spiel und an der musikalischen Interaktion miteinander. Wie also herausfinden aus dieser plötzlichen Konfrontation mit der Realität, dass die Laeiszhalle eben nicht den ‚gewohnt‘ geerdeten Jazzklang bietet?

Die Musiker geben glücklicherweise auf ihre Weise eine Antwort: immer stärker wird der unbedingte Sog, der von ihnen ausgeht und der schließlich (womöglich auch dank klangtechnischer Nachjustierungen) aus der anfänglichen Zerrissenheit befreit.

Zurück also in die „privaten Räumlichkeiten“ von der Musikerfamilie. Wie gerufen kommt da Calderazzos‘ dem Auftaktstück diametral entgegengesetzte Ballade „Conversation Among the Ruins“, die absolute Umkehr nach innen. Spätestens als Marsalis in seiner Solopause ein dröhnendes Störsignal auf der Bühne verortet und kurzerhand eigenständig behebt, darf die Musik endlich in den Vordergrund treten. Und was da zum Vorschein kommt ist so reich an Innovationskraft und Entdeckergeist, dass der Eindruck entsteht, die Kollegen vom „Bandküken“ Justin Faulkner (der zu Zeiten der Quartett-Gründung noch nicht einmal auf der Welt war) würden im musikalischen Miteinander ihre zweite Jugend erleben.

Die Instrumentalisten greifen in ihren Soli auf Melodielinien ihrer Kollegen zurück, imitieren sie, spinnen sie fort, wandeln sie um in eine neue Form, necken sich, fordern sich heraus, fragen, antworten und tragen sich gegenseitig durch den Abend. All dies geschieht auf der Grundlage einer völligen Gleichberechtigung der Stimmen, aus der gemeinsamen Exploration, die jederzeit der Zurschaustellung individueller Spielklasse übergeordnet wird.

Marsalis präsentiert sich dabei als gleichermaßen unprätentiöser wie zuvorkommender Gastgeber, der seinem eigens kreierten vierköpfigen Klangkörper eben den Raum zur Verfügung stellt, den dieser zur völlig freien Entfaltung benötigt. Ob am Sopran- oder am Tenorsaxophon, Marsalis‘ klare, melodiöse Sprache besticht durch ihre Reduktion auf das Wesentliche, leichtfüßig und spielerisch gibt er der Gruppe Gesprächsanstöße auf den Weg, ohne dabei selbst ein Wort zu viel zu verlieren. Der dreifach gekrönte Grammypreisträger lässt an seinem reichen Erfahrungsschatz aus der bunten Schaffenszeit mit klassischen Orchestern, einer Vielzahl von hochrangigen Jazz-Combos und zuletzt den prägenden Kollaborationen mit Kurt Elling oder Sting teilhaben, lehnt sich dann aber ahnungsvoll zurück, um die Entfaltung seines Impulses wahrzunehmen und zu genießen.

Wie gut, dass seine Freunde im Gegenzug kein gutes Argument für sich behalten, sondern ihre diskutier- und konfrontationsfreudige Seite ausleben. Calderazzo, der ebenso wie Revis zwei Stücke zu dem letzten gemeinsamen Album „The Secret Between the Shadow and the Soul“ beitragen durfte (und damit je eines mehr als Marsalis selbst), zeigt sich dabei angriffslustig und kantig-scharf phrasierend, greift in effektvollen Staccato-Kaskaden aufwärts vielfach mit den Händen übereinander oder schlägt wutentbrannt mit der gesamten Handfläche auf die Tasten: schon nach dem ersten Solo fällt sein Jackett seiner Rage zum Opfer. Dann wiederum zeigt er sich fast entschuldigend sanftmütig im getragenen Solo, lässt seine Finger in seinem motivisch angereicherten Spiel über die Klaviatur perlen und lädt damit zum Durchatmen ein.

Gerade diese Atempausen sind an diesem Abend aufgrund des hohen Energieniveaus und der offensiven Spielweise der Musiker besonders wohltuend. Eric Revis bildet dabei stets einen verlässlichen Ruhepol unter den aufgeheizten Gemütern und hält die Form beispielsweise in seinem eigenen Stück „Dance of the Evil Toys“ bedingungslos zusammen durch seine wiederkehrende Basslinie. Dies gibt Justin Faulkner die Möglichkeit, sich so ungehemmt am Schlagzeug auszutoben, sich minutenlang in absolute Ekstase zu spielen und dabei die Tempolimits aus Zeiten Charlie Parkers zu brechen – selbst mit zeitweise zehn Schlagzeugsticks ist dies scheinbar möglich, ohne sich die Hände blutig zu spielen (kleine Anekdote für Kenner:innen des sehenswerten Filmes „Whiplash“).

Es sind eben diese Entdeckerfreude, der Spielwitz und die mitreißende Leidenschaft, die aus den flachen Hierarchien des Quartetts erwachsen und ihm damit trotz seiner beachtlichen Existenzdauer einen immer neuen Anstrich verpassen. Um es mit den Worten von Branford Marsalis zu sagen: “Staying together allows us to play adventurous, sophisticated music and sound good. Lack of familiarity leads to defensive playing, playing not to make a mistake. I like playing sophisticated music, and I couldn’t create this music with people I don’t know.”[1]

Der Abgang der Band nach zwei Zugaben unter stürmischem Jubel erfolgt in ebendieser familiären Vertrautheit, Arm in Arm stehen da die vier Krawattenträger und winken ins Publikum. Man kann sich nur zu gut vorstellen, dass sie den Abend noch mit einem gemeinsamen Bier ausklingen lassen werden – vielleicht ja sogar im Jazzclub von nebenan.

[1] https://www.branfordmarsalis.com/albums/secret-between-shadow-and-soul

Nikolai Röckrath, 6. April 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

SWR Symphonieorchester, Antoine Tamestit, Viola, Teodor Currentzis, Elbphilharmonie, 2. April 2022

 

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