Musikdrama von Richard Wagner
Vorabend des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« in vier Bildern
Musikalische Leitung: Srba Dinić
Staatstheater Braunschweig, 8. Oktober 2022 PREMIERE
von Dr. Klaus Billand
Auch das Staatstheater Braunschweig machte sich nun an eine Neuinszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ heran, wenn man das noch so eins zu eins ausdrücken kann. Dabei hat der „Ring“ in Braunschweig eine lange Geschichte. 1878/1879, also schon zwei Jahre nach der Uraufführung in Bayreuth, war Braunschweig schon die vierte Bühne der Welt mit einer zyklischen Wiedergabe, nach München, Leipzig und Wien. Es folgten weitere Interpretationen und nach 1945, die vier Werke einzeln von 1954-70. Dann 1976-78 wieder als „Ring“ in der Regie von Hans-Peter Lehmann und zuletzt 1999-2001 eine Neuinszenierung in der Regie von Uwe Schwarz, diese 2001 auch zyklisch.
Vielleicht ist diese häufige und bis dato Wagners Vorgaben weitgehend folgende Beschäftigung mit der Tetralogie einer der Gründe, warum man es diesmal ganz anders machen wollte, oder machen zu müssen glaubte. Denn man sieht in Braunschweig in der Veränderung der Mittel der darstellenden Künste die Theater mit den Fragen konfrontiert, welche Formen und Formate, welche Arbeitsweisen und Rezeptionshaltungen heute zeitgemäß sind. Und, „wie verortet sich das Theater in der Stadtgesellschaft?“ In Anspielung auf die seit 1880 so benannten Braunschweiger Stadtteile Östliches und Westliches Ringgebiet, die von einer Ringstraße umbaut werden sollten, formulierte man das Motto „Ausweitung des Ringgebiets“ für den neuen „Ring“ von Wagner. Damit möchte das Staatstheater Braunschweig „einen Weg einschlagen, der sich dezidiert aus den Qualitäten eines Mehrspartenhauses entfaltet und aktiv den Austausch mit der Stadtgesellschaft sucht. Dabei wird die Idee eines „Universalgenies“ als Modell einer Gesellschaft in Transformation wie bei Wagner durch die Exzellenz von Kollektiven aus verschiedenen Sparten ersetzt.“ Es geht nun also nicht mehr um eine Synthese der Künste zu einem Gesamtkunstwerk, womit man wohl jenes von Wagner zu meinen scheint, sondern vielmehr „um die Gebrochenheit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation.“
Dabei scheint in diesen Ausführungen der Braunschweiger Spielplanvorschau 2022/23 der Begriff „Theater“ mit dem Begriff „Musiktheater“ gleichgesetzt zu werden, obwohl doch die Musik, die sich in einer einmal fixierten und geschlossenen Komposition manifestiert, engste Grenzen für eine „spartenübergreifende Interpretation“ setzt. Denn man will in Braunschweig die Tetralogie „quer durch alle Sparten“ inszenieren, zwar noch im Sinne einer „Hinterfragung“, aber „Wagners Weltentwurf“ aus einer „neuen Sicht heraus denken.“ Muss denn Wagners Gesamtkunstwerk „Der Ring des Nibelungen“ hinterfragt werden, man dafür „neue künstlerische Formen“ suchen und Ähnliches?! Und ob das Publikum so etwas überhaupt goutiert, wäre erst einmal abzuwarten. Obwohl gerade mit diesem Ansatz in Braunschweig ein „aktiver Austausch mit der Stadtgesellschaft“ gesucht wird. Doch dazu gleich mehr.
Das Braunschweiger „Rheingold“ in der Regie von Isabel Ostermann, der Operndirektorin des Hauses, die als Regieassistentin u.a. mit Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief, Harry Kupfer, Achim Freyer, Andreas Homoki und Peter Konwitschny gearbeitet hat, beginnt zunächst ganz interessant. Sie wurde dabei von der Dramaturgin Sarah Grahneis unterstützt, die mit der Regisseurin eine interessantes, aber lesebehindernd durchgegendertes Gespräch führte. Zwar sehen wir zum sehr beschwingt dirigierten Vorspiel erst mal eine Art Familienaufstellung, bei der sich alle Akteure in einer Reihe nach und nach an der Rampe ansammeln, ein Bild, welches man ähnlich im Stuttgarter „Rheingold“ von Joachim Schlömer schon 1999 sehen konnte.
Dann wird es aber interessant. Die Rheintöchter beginnen zu singen und mit dem noch gesellschaftlich unfertigen Alberich zu agieren, während der im eleganten Dreiteiler auftretende „Lichtalbe“ Wotan ihm wie ein älterer Bruder bei seinen Verführungsversuchen beratend zur Seite steht. Ostermann hebt hiermit die ursprüngliche Verwandtschaft beider als Licht- und Schwarzalbe hervor, beide Seiten ein und derselben Medaille, die sie ja konzeptuell auch bei Wagner sind. Im weiteren Verlauf verliert sich die Beratungsleistung Wotans, und seine Schergen entpuppen sich als Rheingold in Goldmaskenform, die sie sich überziehen, als fürchterliche Peiniger des Alben. Er wird – wie kann es heute anders sein – bis auf die Unterhose entkleidet und auf einem Tisch fürchterlich gepiesackt.
Damit legt die Regisseurin aber das biografische Argument für Alberichs im 3. Bild zu erlebende offene Brutalität und Grausamkeit in Nibelheim, das im Bühnenbild von Stephan von Wedel dennoch lustvoller und geselliger wirkt als die unterkühlte Spartanik der Burgstube Wotans. Mit einem pompösen Schreibtisch und einem großen, in die Natur gerichteten Fenster, ist Walhall nach außen offen mit zwei schlichten großen weißen Wänden begrenzt. Mit einigen in Vitrinen aufbewahrten „Ring“-Ponderabilien, wie Siegfrieds Schwert und Ähnlichem, wird hier die Gewalt eher sublim vertuscht, auch in der Handlung Wotans während des „Rheingold“. Einige Umzugskartons stehen auch noch herum und bilden die Sessel, auf denen sich Wotan, Loge und Alberich niederlassen, um diesen seines Goldes (später US$-Bündel) zu berauben. Loge nimmt bei diesem Akt interessanterweise eine teilnehmende, ja nahezu bedauernde Haltung ein, was das Schicksal Alberichs betrifft, wie überhaupt Ostermanns Personenregie die Figuren interessant und sicher zeichnet, wenn auch nicht immer in Linie mit Wagners Intentionen – aber passend zu ihrem Regiekonzept. Es geht ihr um den skrupellosen Einsatz von Macht, um Interessen durchzusetzen, dabei aber auch um familiäre Konstellationen, die die „Götterfamilie“ im Prinzip auch verkörpert. Valentin Schwarz hat das ja im Sommer in Bayreuth mit bescheidenem Erfolg ebenfalls zu deuten versucht. Oldenburg gelang es, ohne dass der Regisseur Paul Esterházy es überhaupt thematisierte, ganz hervorragend.
So will Julia Burkhardt auch im Kostümbild die Hierarchie innerhalb der Familie ebenso wie den grundsätzlichen Status ihrer Mitglieder offenlegen. Donner und Froh greifen aus ihrer Sicht mit ihren jugendlich geschnittenen Anzügen den patriarchalischen Outfit Wotans auf, mit karierten Hosen, erfüllen damit aber nur ein spezifisches Rollenbild, das sie von ihrer Persönlichkeit her nicht erfüllen können, ähnlich wie die beiden Riesen in blauen Anzügen. Mit einer Mischung aus Robe und Morgenmantel will Burkhardt zeigen, dass Fricka als Frau Wotans in einer lieblosen Ehe ist, aus der sie als Hüterin dieser Institution nicht herauskommt. Freia hingegen wird mit offener Lederjacke wirklich „freier“ gestaltet und – theatralisch sehr effektvoll – ihrer Kleidung beraubt und entblößt, als sie mit Stapeln von US-Dollar-Noten überhäuft wird, als es um das Messen des Schatzes geht. Das war ein starkes Bild!
Und so hätte dieses „Rheingold“ ein durchaus ernsthafter Beitrag zu jüngeren, bisweilen arg aus dem Ruder laufenden Deutungsansätzen des Wagnerschen Regietheaters – denn es sind selten mehr als nur Ansätze – sein können. Wenn da nicht dieser Gedanke mit der Spartenübergreifung gewesen wäre, der nun für erhebliche Störung sorgte. In dem Moment, als Donner im 2. Bild die Riesen mit seinem Hammer bedroht und Wotan mit dem Speer dazwischen geht, stoppt die Musik! Dirigent Srba Dinić, der bis dahin für eine glanzvolle musikalische Leistung des Staatsorchesters Braunschweig gesorgt hatte, verschränkte die Arme. Auf der Bühne begann eine junge Schauspielerin, die schon vorher auf ihr herumwuselte, ohne dass man eine Ahnung hatte, wen oder was sie darstellte, nun einen etwa fünfminütigen Monolog mit ziemlich geschrienen Worten an Wotan zu richten, dass er die ganze Welt mit seiner Machtgier und Verträgen mit in die Krise reiße. Und natürlich: „Ich will keinen Mythos!“ Laut Programmheft handelte es sich um Brünnhilde, gespielt von Nina Wolf, die, wie im 4. Bild noch Luca Füchtenkordt als junger Hagen, Texte von Thomas Köcks „Wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped eschenwood)“ spricht, wobei Komponist und Titel bezeichnenderweise durchgestrichen sind.
Die Texte sollen eine Musikalität in ihrem Duktus haben, der aber keineswegs wahrnehmbar ist, aber „auch einen klaren Kontrast zum Wagner-Gesang und den Stabreimen bilden.“ Und den hatten sie über alle erträglichen Maßen! Ohne Rücksicht auf Wagners Komposition, den geschlossenen Duktus der musikalischen Vorlage und ihre inhärente Dynamik, gerade im „Rheingold“, sollen die junge Brünnhilde und Hagen stellvertretend für die Nachfolgegeneration der beiden Antagonisten Wotan und Alberich auftreten und sich zu den Taten ihrer Vorgänger positionieren. Das ist übrigens auch nichts Neues, denn Tatjana Gürbaca hat 2017 im Theater an der Wien einen auf drei Teile gekürzten „Ring“ der Nachfolgegeneration inszeniert, dabei aber die Musik nie unterbrochen, nur Teile gekürzt, was aber auch nicht erfolgreich war. Es ist auch kaum anzunehmen, dass Constantin Trinks als Dirigent das damals mitgemacht hätte. Ob Isabel Ostermann das bekannt war? Sie wollte sich diesmal bewusst nicht mit der jüngeren Rezeption beschäftigen und sich intensiv dem Stück selbst widmen…
Ganz abgesehen von einer solchermaßen musikalischen Dekonstruktion des Stücks kommen diese Sprechakte einer Bevormundung des Publikums und sogar auch des – sich nicht mehr wehren könnenden – Komponisten gleich. Denn alles, was die junge Brünnhilde da herausplappert, hat Librettist Wagner weise dem Fasolt in seine lange Rede an Wotan schon in den Mund gelegt, und nicht nur da. Man muss nur lesen und hören können! Bei Bässen ist die Diktion eh meist perfekt. Oder glaubt man dem Komponisten nicht mehr?! Muss man ihn aufbessern, damit auch eine vermeintlich mit Stabreimen nichts anfangende Jugend alles versteht? Soll diese also völlig unvorbereitet in solche Stücke gehen, weil ihr trotz des Gesangs auch noch mit Sprechstimme alles vermittelt wird? Das kann es doch nicht sein! Und so war denn auch die Reaktion einiger Zuschauer. Beim Monolog der Brünnhilde rief einer: „Halt den Mund“ und beim Monolog des Hagen ein anderer: „Es reicht!“, worauf Luca Füchtenkordt retournierte „Es reicht noch lange nicht!“, wobei aber nicht klar wurde, ob das inszeniert war oder der Schauspieler sich in dem Moment textlich verselbständigt hatte. Ob es das ist, was sich das Braunschweiger Staatstheater mit dem erhofften „aktiven Austausch mit der Stadtgesellschaft“ vorgestellt hat?!
Am Schluss gab es dann noch eine dritte spartenübergreifende Intervention des Sprechtheaters in das Stück, und zwar ausgerechnet in die Musik zum Finale, dem sogenannten „Einzug nach Walhall“. Die junge Brünnhilde rief da Wotan den Text des Schlussgesangs der Brünnhilde in der „Götterdämmerung“ entgegen, der bekanntlich mit „enden sah ich die Welt“ schließt. Dabei hat ausgerechnet Wagner selbst diesen noch stark von Schopenhauer beeinflussten Text verworfen. Denn er wollte am Ende den Sieg der Liebe betonen. Dabei ist der mehr als zweifelhafte Triumph des Einzugs der Götter nach Walhall (obwohl sie hier ja schon längst drin waren …) in dem tönernen ausgehöhlten Pathos des zwölfmal wiederholten Themas des Einzugs klar zu erkennen…
Es gab mit dem Schauspieler Heiner Take noch einen stummen Hunding, der auch mal das Schwert aus der Vitrine holte und wild herumschwang…
Aber kommen wir zur Habenseite, den Sängern und dem Orchester. Srba Dinić erreichte mit dem Staatsorchester Braunschweig bei zügigen Tempi eine spannende und dynamisch ständig vorwärts drängende musikalische Interpretation, die die zwei Unterbrechungen und die finale Störung umso schmerzhafter wirken ließen. Besonders stachen die hervorragenden Streicher und die guten Bläser hervor. Das geriet schon fast zu einem musikalischen Krimi. Der Grieche Aris Argiris, mir schon aus der „Walküre“ als Wotan in Chemnitz bekannt, lieferte wieder eine erstklassige Leistung als Wotan mit kraftvollem Bassbariton, guten Höhen und einem starken mimischen Ausdruck. Michael Mrosek als Alberich machte ebenfalls eine sehr gute Figur, ist für den Alberich gerade in dieser Interpretation etwas zu gesanglich. Mehr Schwärze und Volumen hätten da gepasst. Thomas Mohr zeigte einmal mehr, was für ein großartiger charaktervolle Loge er ist, der die Rolle auch vollumfänglich erfasst und somit für Wotan einen Partner auf Augenhöhe darstellt. Und wenn die beiden gut sind, kann ein „Rheingold“, wenn man es so lässt, wie es komponiert wurde, nur erfolgreich sein.
Die junge Catriona Morison wartete als Fricka mit einem klangvollen hellen Mezzo auf. Auch die ebenso junge Ekaterina Kudryavtseva beeindruckte stimmlich wie darstellerisch als geschundene Freia. Marlene Lichtenberg bewies einmal mehr ihre guten vokalen Qualitäten als mahnende Erda, beindruckte aber auch mit ihrem schicksalhaften Gang durch die Protagonisten bei ihrem Weg über die ganze Bühne. Nadine Yeghiyan als Woglinde, Milda Tubelytė als Wellgunde und Isabel Stüber Malagamba als Flosshilde sangen ausgezeichnet und agierten in schicken Outfits verführerisch. Maximilian Krummen als Donner, Kwonsoo Jeon als Froh, Rainer Mesecke als Fasolt, Jisang Ryu als Fafner und ein stimmlich etwas zu dünner Mattew Peña als Mime vervollständigten das gute Ensemble. Die meisten der letztgenannten sowie Fricka und Freia debutierten in ihren Rollen.
Dieser „Ring“ ist mittlerweile ganz apart weitergegangen mit einem getanzten Siegfried von 80 Minuten Länge, ein Auftragswerk des Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher, der in der Choreographie von Gregor Zöllig laut Spielplanvorschau „den inhaltlichen Kern aus Wagners Oper in eine Lebensrealität transferiert, in der Natur nur noch eine Behauptung ist.“ Auch das schon wieder eine Bevormundung. Aber es liegt ja im allgemeinen gesellschaftlichen Trend in Deutschland… Und den sollte man mal hinterfragen, nicht Stücke von universaler Gültigkeit!
Dr. Klaus Billand, www.klaus-billand.com,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Das Rheingold Bayreuther Festspiele, 31. Juli 2022
Richard Wagner, Das Rheingold Wiener Staatsoper, 21. Mai 2022