Andris Nelsons ist auf dem Olymp angekommen

BSO  Andris Nelsons, Dirigent, Jean-Yves Thibaudet, Klavier  Konzerthaus Dortmund, 4. September 2023

Jean-Yves Thibaudet © Andrew Eccles

Auf seiner Europatournee macht das Boston Symphony Orchestra mit seinem Chefdirigenten und dem französischen Pianisten Jean-Yves Thibaudet auch Station im Konzerthaus Dortmund.

Konzerthaus Dortmund, 4. September 2023

Carlos Simon (*1986) – Four Black American Dances für Orchester

George Gershwin (1898-1937) – Konzert für Klavier und Orchester F-Dur (1925)

Sergei Prokofjew (1891-1953) – Sinfonie Nr. 5 B-Dur, op. 100


Jean-Yves Thibaudet, Klavier

Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent

von Brian Cooper, Bonn

„Das könnte auch ein Adams sein“, sagt einer meiner beiden Begleiter, die gute Musik schätzen, nachdem das Boston Symphony Orchestra seinen Dortmunder Abend fulminant mit Carlos Simons Four Black American Dances eröffnet hat. Er meint John Adams. Und in der Tat: Es ist eine sofort als solche erkennbare US-amerikanische Musik. Durch und durch ist sie getränkt von diesem, nun, gewissen Idiom. Höchst originell, rhythmisch vertrackt, mit außergewöhnlichen Klangfarben, oft lärmend, und das im positiven Sinne, dabei stets humorvoll, stets raffiniert – und die vier kurzen Tänze warten mit allem auf, was ein brillantes Orchester zu bieten hat.

Da sind zum Beispiel die gedämpften Trompeten, die im ersten Tanz nicht etwa leise spielen, sondern volles Rohr loströten, während einige Orchestermitglieder dazu klatschen. (Bei Bernstein, zu Beginn der West Side Story, wird mit den Fingern geschnippt.) Da sind die zu Beginn des letzten Stücks gedämpften Posaunen mit ungedämpfter Bassposaune plus Tuba: Was für eine interessante Klangfarbe! (Hinterher stehen die drei Posaunisten auf, and they let rip, wie man im Englischen sagt.) Und da ist der großzügige Einsatz des Schlagwerks, inklusive zweier Peitschen, Rassel und virtuosem Xylophon.

Der zweite Tanz ist hingegen ruhig. Die zarte Einleitung im Holz wird von den Streichern aufgenommen, hinzu kommen sanfte Beckenschläge, und prompt sind wir in einem Walzer, der an Rachmaninow gemahnt.

Interessant ist der Vergleich zum Vorabend in Köln. Das Boston Symphony Orchestra stellt sich auf die andere Akustik ein, in Dortmund ist mehr Nachhall. Man hat hörbar eine Anspielprobe gehabt. Ehrensache. Und Carlos Simons Musik ein zweites Mal zu hören ist beileibe keine Strafe. Im Gegenteil. Apropos Strafe: Ein drittes Mal hörte ich Ausschnitte aus Carlos Simons Musik zur Pause. Aus einem Smartphone vor dem Konzerthaus. Lieber Mitbürger, heimliche Mitschnitte sind illegal. Mal davon abgesehen, dass es klanglich ziemlicher Murks ist.

Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra © Marco Borggreve

Im Mai 2022 sollten die Bostoner bereits auf Europatournee gehen; zwei Konzerte in Paris standen in meinem Kalender. Doch die Tournee fiel ins Wasser. Das zeigt, dass wir es nie für selbstverständlich erachten sollten, ein Spitzenorchester zu hören, das aus weiter Ferne anreist.

Was hingegen Ende Mai 2022 sehr wohl stattfand, ein paar Tage nach den ausgefallenen Bostoner Konzerten in Paris: Das Orchestre de Paris kam mit Manfred Honeck nach Dortmund und spielte unter anderem das Concerto in F von George Gershwin. Damals war Igor Levit der Solist; nun war es Jean-Yves Thibaudet. Selten genug hört man den Gershwin live, und es mausert sich immer mehr zu einem meiner Lieblingskonzerte für Klavier und Orchester – u.a. neben jenem von Grieg, einigen von Mozart und den beiden von Ravel, letztere werden Ende des Monats übrigens ebenfalls in Dortmund zu hören sein, und das an einem einzigen Abend, und dann auch noch mit dem Concertgebouworkest, Yuja und Klaus, ich platze fast vor Vorfreude…

Thibaudet spielt das Stück mit einer solchen Leichtigkeit, dass man einfach nur beglückt staunt. Das mit der Leichtigkeit ist durchaus mehrdeutig gemeint, nämlich einerseits hinsichtlich seines durch und durch französisch-eleganten Anschlags, und andererseits spürt man nie, wie schwer und technisch anspruchsvoll der Solopart ist.

Wenn Thibaudet nicht spielt, hört er aufmerksam zu, den Kopf leicht gen Orchester geneigt, und ist vermutlich beglückt, diese Klänge zu vernehmen, die Nelsons seiner Edelband zu entlocken imstande ist. Auch Nelsons hört und schaut immer wieder genau hin, wenn Thibaudet spielt. Das kann man etwa im ersten Satz bei einem der schwelgerischen Höhepunkte verfolgen, der genau deshalb so toll gerät, weil alles so präzise ist und die Klangbalance stimmt. Im zweiten Satz – wie am Vorabend in Köln glänzte der Solotrompeter einmal mehr mit der langen, bluesig-sinnlichen Jazzeinleitung – klangen die Arabesken, die Thibaudet gegen Ende spielte, wie improvisiert. Das ist hohe Kunst.

Prokofjews Fünfte, die nach der Pause folgte, war in der von den Bostonern dargebotenen Qualität von einem anderen Stern. Sie ist neben der völlig anderen Ersten die eingängigste und am wenigsten sperrige des Komponisten – und sicher auch deshalb so beliebt. Beste Erinnerungen habe ich an Yannick mit den Berliner Philharmonikern in Hamburg und Paris sowie an Alan Gilbert mit dem New York Philharmonic in Köln.

Auch am Dortmunder Abend mit den Bostonern stimmt einfach alles: intensiver, aristokratischer Streicherklang, dichte Bogenführung bis ins letzte Pult; diese Wärme, insbesondere im langsamen Satz; kleinste Details, die verzücken, etwa die Oboe, die am Ende des dritten Satzes kurz aufblüht, oder die freche Klarinette im vierten Satz; perfekte Blechbläser, die freilich niemals Gefahr laufen, allzu klinisch rein zu spielen: Es muss ein wenig schmutzig zugehen, wenn sich etwa die Hörner emporschrauben.

Ein Detail aus dem zweiten Satz: das Crescendo in den Streichern ganz am Anfang. Nelsons macht eine kleine Geste mit großer Wirkung. Dann die „Troll-Stelle“, wie ich sie nenne: Trompeten über Streicherpizzicato, das Ganze im halben Tempo. Halbes Tempo? Damit man beschleunigen kann! Die Maschine schnattert und rattert und schnurrt nicht nur in diesem zweiten Satz, sondern vor allem im letzten, schnurstracks einem spektakulären Ende entgegen. Und die Leute hält es nicht mehr auf ihren (in Dortmund übrigens sehr bequemen) Sitzen.

Dass Andris Nelsons ein sehr guter Dirigent ist, das wissen wir schon lange. Gerade im russischen Repertoire erlebte ich zahlreiche Glanzleistungen: eine Achte Schostakowitsch in Dortmund – heute würde er danach sicher keine Zugabe mehr spielen – und eine Elfte in Amsterdam waren beide erschütternd. Dazu gab es eine Vielzahl einfach nur sehr guter Konzerte, nicht mehr und nicht weniger.

Doch die beiden Abende mit den Bostonern in Köln und Dortmund zeigen nun etwas Neues. Der Mann ist gereift wie ein wunderbarer Wein, und nun ist er endgültig auf dem Olymp angekommen. Mögen ihm die Götter dort ein sehr langes Dirigentenleben bescheren.

Dr. Brian Cooper, 5. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

PS: Irgendwann möchte ich nach Boston und mein neues US-Lieblingsorchester zuhause hören. Also in der Symphony Hall, die ja 1900 eröffnet wurde, ungefähr zur selben Zeit wie die anderen, akustisch wunderbaren, Schuhkarton-Konzertsäle: die Historische Stadthalle in Wuppertal (ebenfalls 1900), das Concertgebouw in Amsterdam (1888) und der Goldene Saal des Wiener Musikvereins (1870). Und vorher möchte ich mit Berta Panislowski Kaffee trinken und Torte essen. Die kommt schließlich aus Massachusetts und hat noch ein Klavier, ein Klavier…

Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons, Dirigent Kölner Philharmonie, 3. September 2023

CD-Rezension: Rachel Willis-Sørensen, Strauss Four last Songs, Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons  Dirigent klassik-begeistert.de, 24. April 2023

Musikfest Berlin, Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons  Dirigent Philharmonie Berlin, 9. September 2022

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