Musik weckt nicht immer angenehme Kindheitserinnerungen

Buchbesprechung: Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden,  klassik-begeistert.de

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Buchbesprechung: Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden

Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021

ISBN 978-3-498-00122-3

von Jolanta Łada-Zielke

Manchmal denkst du beim Lesen einer Geschichte: Das erinnert mich an meine Geschichte! Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht! Ich hatte einen solchen Eindruck bei der Lektüre des debütierenden Buchs von dem Schauspieler Edgar Selge, herausgegeben beim Rowohlt-Verlag.

In dem Erzähler und Hauptheld zugleich kann der Leser sich selbst, seine eigenen Sorgen und Ängste wiederfinden. Zwar gibt es den Unterschied einer Generation zwischen mir und dem Autor, aber als Kind habe ich ähnliche Erziehungsmethoden und kleine Ungerechtigkeiten von Erwachsenen wie er erlebt. Ich musste Klavier spielen lernen, nicht wegen der Liebe meiner Eltern zur Musik, sondern weil ich als „Fräulein aus gutem, bürgerlichen Hause“ diese Fähigkeit beherrschen musste.

„Eine Erinnerung ist noch keine Erzählung. Soll sie das werden, beginnt die Fiktion”, behauptet der Autor. Trotzdem scheinen seine Memoiren mit der Musik im Hintergrund echt zu sein. Edgars Vater ist Direktor der Jugendstrafanstalt und veranstaltet Hauskonzerte für die Schützlinge zu Rehabilitationszwecken. In dem Roman erscheint Musik in einem interessanten Zusammenhang. Sie dient nicht nur der Moralverbesserung, sondern ist auch ein Zwangsmittel, wenn zum Beispiel die ganze Familie auf Befehl des Vaters Kanons singt. „Da muss man aber die Stimme halten können, sonst wird unser Vater ungeduldig, und ihm rutscht schon mal die Hand aus, wenn man mehrmals falsch einsetzt”. Musik ist auch ein Zeuge trauriger Ereignisse, wie vom Ehebruch Edgars Großvater, sie begleitet die Geschichten des Todes einzelner Familienmitglieder.

Die musikalischen Werke, die dem Autor in Erinnerung bleiben, sind unter anderem Bachs Konzert für zwei Klaviere, Mozarts D-Dur Sonate für 2 Klaviere, die Haydn-Variationen, das Cellokonzert von Dvorak und „Die Moldau”von Bedřich Smetana. Edgar Selge-Senior drückt die Wut auf seinen Sohn aus, indem er das Thema des 3. Satzes von Mozarts Konzert in A-Dur KV488 am Klavier spielt. Die Geräusche, die er beim Reinigen der Badewanne macht, erinnern den Jungen an eine der Symphonien von Peter ​​Tschaikowsky. Herr Selge stirbt nach einer Diskussion über die gerade gesehene Vorstellung von Verdis „Aida“.

Die Nähe des Gefängnisses für jugendliche Straftäter hält der Autor für eine Metapher seines Lebens. Sein „Gefängnis“ ist die Lust, die Erwartungen von allen zu erfüllen, was ihm offensichtlich misslingt. Ein Beispiel sind stressige Lateinstunden bei seinem Vater. Da die Erwachsenen Edgar ständig die Grenzen setzen, flieht er häufig in die Welt der Phantasie. Er hat Angst vor einem dunklen Keller, aber abends schleicht er sich heimlich ins Kino. Die Bücher lernt er lieber alleine kennen, als wenn der Vater sie der ganzen Familie vorliest. Edgars Lieblingslektüre sind Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” und die Prosa von Joseph Conrad (der eigentlich Pole war, wie der Autor anmerkt).

Als er sich für eine Schulkameradin interessiert, und ihre Aufmerksamkeit anziehen will, gießt er einmal Kakao auf ihr Haar. Die letzten Seiten des Romans füllt eine rührende Erzählung über die Familienwache am Sterbebett seines Bruders Andreas. Unter diesen Umständen stellt Edgar sich als ein Wunderkind vor, das Liszts „Schneetreiben-Etüde“ in der Carnergie Hall mit Affenzahn aufführt.

Edgars Eltern gehören der von der Geschichte geprägten Kriegsgeneration an. Der Vater war an der Ostfront, hat jedoch keine Schuldgefühle und glaubt, seine Pflicht getan zu haben. Er hat eine nationalistische Einstellung. Seine Aussage zu jüdischen Musikern scheint wie direkt aus Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“entnommen zu sein. Umso interessanter klingt die Beschreibung seines Besuchs bei einem jüdischen Anwalt, mit dem Edgar-Senior versucht, Beethovens „Frühlingssonate” aufzuführen. An einer anderen Stelle taucht Herbert von Karajans Name und seine Beteiligung am Nazi-Regime auf.

Die Mutter leidet unter einem quälenden Gefühl der Unerfülltheit. Wie ihr Mann nimmt sie als Geigerin an Hauskonzerten teil, bleibt aber dennoch in seinem Schatten. Pech verfolgt sie auch in anderen Bereichen, weil sie wegen eines unvorsichtigen Radfahrers die Führerscheinprüfung nicht besteht. Ihr verborgener Lebensschmerz führt zu Magenstichen. Der Autor stellt jedoch fest: „Das Abenteuer der Liebe ist Sehnsucht, nicht Erfüllung“. Ich frage mich, ob das auch die Liebe zur Musik betrifft.

Die Sprache des Romans ist lebendig, bildhaft, manchmal dramatisch, auf jeden Fall spürt man, dass es ein Schauspieler geschrieben hat. Sicherlich werde ich von Zeit zu Zeit wieder ins Regal zu diesem Band greifen.

Jolanta Łada-Zielke, 24. April 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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