Aus dem Englischen von Jens Hagestedt
Wolke Verlag, Hofheim 2010
ISBN 978-3-95593-113-1
Diese Ausgabe entstand in Zusammenarbeit mit Peermusic Classical GmbH
von Jolanta Łada-Zielke
Dieser Komponist war sehr produktiv. 154 seiner Werke haben Opus Zahlen, und außerdem gibt es viele ohne Nummer. Mieczysław Weinberg (1919-1996) ist einerseits mit seinen polnisch-jüdischen Wurzeln stark verbunden, andererseits vielseitig und inspiriert von Ideen aus aller Welt. Das in den letzten Jahren wachsende Interesse an diesem Komponisten hat mich ermutigt, seine von David Fanning verfasste Biographie „Auf der Suche nach Freiheit“ kennenzulernen. Der Autor ist ein Musikprofessor an der Universität in Manchester.
Eigentlich reicht es, das Vorwort zu lesen, um sich einen Überblick über Weinbergs Leben und Werk zu verschaffen. Sein Biograph erklärt die Bedeutung des Titels: Weinberg suchte die Freiheit sowohl im Leben als auch zum Komponieren. Ich hatte den Eindruck, dass er eher versuchte, sich an die Bedingungen anzupassen, in denen er sich befand; diese änderten sich in seinem Leben ständig. Er überstand verschiedene, oft tragische Wechselfälle, versetzte sich jedoch nie in die Rolle eines Opfers. Zu seinem Werk gehört vor allem die Symphonie- und Kammermusik, die hauptsächlich aus Streichquartetten und Sonaten für verschiedene Instrumente besteht. Seine Vokal- und Instrumentalstücke umfassen Lieder, Kantaten, Opern und Operetten sowie ein Requiem. Er schloss in die Besetzung einiger seiner Symphonien Chöre und Solisten ein. Weinberg schrieb auch Ballettmusik, darunter „Der goldene Schlüssel“ über die Abenteuer von Buratino (das russische Äquivalent zu „Pinocchio“).
Zwar war Weinbergs Wahlheimat die Sowjetunion, es wäre aber eine zu große Vereinfachung, ihn als russischen Komponisten zu bezeichnen. Der Musikkritiker Alexander Tschaikowskij zählt ihn zu den „sowjetischen Klassikern“ zusammen mit Schnittke, Gubaidulina und Denissow. Für mich ist Weinberg ein slawischer Künstler polnischer Abstammung, mit jüdischen Wurzeln und weitem Horizont. Dies alles ist in seiner Musik zu hören. Ein großer Förderer von Weinbergs Schaffen war der schwedische Anwalt Per Skans. Fanning beruft sich auch auf zwei polnische Autoritäten im Bereich der Musikwissenschaft und Musikgeschichte: Danuta Gwizdalanka und den Komponisten Krzysztof Meyer, der sowohl Weinberg als auch Szostakowitsch persönlich kannte.
Mieczysław Weinberg wurde am 8. Dezember 1919 in Warschau geboren. Seine jüdischen Vorfahren stammten aus Bessarabien (heute Moldawien), flohen aber während des Pogroms 1903 nach Polen. Mieczysławs Vater Szmul war Komponist und Geiger, der im jüdischen Theater in Warschau arbeitete. Dort begann der kleine Mietek Klavier zu spielen. Als Zehnjähriger war er schon so geschickt darin, dass er seinem Vater bei der musikalischen Begleitung von Spektakeln half. Zwei Jahre später begann er richtig Klavierspielen zu lernen, zunächst an der Musikschule von Frau Matulewicz und dann am Warschauer Konservatorium bei Professor Józef Turczyński. In Polen unternahm er die ersten Kompositionsversuche. Er war Co-Autor des Soundtracks zum Musikfilm „Fredek uszczęśliwia świat“ (Fredek macht die Welt glücklich).
Nach Ausbruch des Krieges im September 1939 floh er zu Fuß Richtung Osten. Zuerst begleitete ihn seine Schwester Estera, deren Schuhe unbequem waren und ihre Füße rieben. Deshalb beschloss sie nach Warschau zurückzukehren. Zwei Jahre später wurde sie von den Nazis zusammen mit den Eltern im Arbeitslager Trawniki bei Lublin ermordet. Mieczysław erfuhr darüber erst in den 1960er Jahren. 1981 widmete er Estera sein Streichquartett Nr. 16 op. 130, und seiner Mutter die Gedenksymphonie Nr. 13 op. 115 (1977).
An der Grenze zu Belarus trug ein Beamter Mieczysławs Vorname als „Moisej“ in die Dokumente ein, wie es offiziell bis 1982 blieb. Fanning schreibt seinen Kosenamen „Metek“, während es korrekterweise „Mietek“ ist. Der Autor macht das wahrscheinlich nach der russischen Rechtschreibung, bei der man den Buchstaben „e“ wie „ie“ ausspricht.
In Minsk studierte Mieczysław Komposition bei Professor Vasily Solotaryov (ein Schüler von Rimsky-Korsakov). Weinbergs Abschlusskonzert fand am 21. Juni 1941 statt, buchstäblich wenige Stunden vor dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR. Dem frischgebackenen Diplom-Komponisten gelang die Flucht nach Taschkent, wo er eine Stelle als Korrepetitor an der Usbekischen Staatsoper bekam. Ein Wendepunkt in seinem Leben und Schaffen kam 1943, als er eine Einladung von Dmitri Schostakowitsch nach Moskau erhielt. Dieser war von seiner 1. Sinfonie begeistert. Er freundete sich mit Mieczysław an, sie musizierten oft zusammen und spielten Stücke für vier Hände. Weinberg betrachtete sich nicht als Schostakowitschs Schüler, obwohl er zweifellos unter dessen Einfluss stand. Die beiden führten eine Art „künstlerischen Dialog“ miteinander. So lautete auch der Titel der ihnen gewidmeten wissenschaftlichen Konferenz, die 2006 an der University of Rochester in New York stattfand.
Fanning teilt Weinbergs Biographie in Kapitel ein. Am Ende von jedem gibt es einen Überblick der in einem bestimmten Zeitraum entstandenen Werke. Die Beschreibungen der Stücke sind detailliert und enthalten nützliche Informationen für jemanden, der ein Programm eines Konzerts mit Weinbergs Musik vorbereitet. In Bezug auf Weinbergs symphonisches Werk sieht sein Biograph zwei Tendenzen: Einerseits sind es relativ komplexe, chromatisch ausgereizte expressiv-esoterische Werke im neoimpressionistischen Stil, wie der Liederzyklus „Akazien“ op. 4 und die Klaviersonate op.5. Anderseits schuf er relativ geradlinige, stärker tonal orientierte und damit leichter zugängliche Stücke, darunter das Streichquartett op. 3 und „Drei Romanzen“op. 7. Der Komponist korrigierte oft Jahre später zuvor geschriebene Stücke oder verwendete Motive aus früheren Kompositionen in späteren Werken.
Musikalischer Prophet in seiner Wahlheimat
Die Kriegserlebnisse und der Verlust der Familie prägten Weinbergs Schaffen. Als seine moralische Pflicht betrachtete er, das Thema Krieg aufzugreifen, obwohl es in der Sowjetunion in den 1940er und 1950erJahren nicht populär war. Man riet jungen Komponisten, sich von der tragischen Vergangenheit zu distanzieren und auf die optimistische (sozialistische) Gegenwart zu konzentrieren. Man warf Weinberg den Formalismus und „den Reichtum an Einfällen“ sowie eine abstrakte Musiksprache vor. Er schrieb aber damals „politisch korrekte“ Stücke, zum Beispiel die „Festlichen Bilder“ op. 36 zum 30. Jahrestag der Oktoberrevolution (die überraschenderweise auf der „schwarzen Liste“ landeten), oder „Vier Romanzen“ op. 38 zu Ehren Lenins und Stalins. Die sowjetische Kritik sprach ihm sein Talent nicht ab, behauptete jedoch, er habe „die schlimmsten Tendenzen“ von Schostakowitsch und Prokofjew übernommen.
Die schwierigste Zeit für ihn war 1948-1953, die mit einem Aufenthalt in einem stalinistischen Gefängnis endete, in dem er sich infolge einer Verschwörungstheorie befand. Man unterstellte ihm „bourgeoiser Jüdischer Nationalismus“. Erst in den 1970er Jahren anerkannte man ihn als den einheimischen Künstler. Er erhielt die Titel „Komponist der Russischen Republik“ (1971) und „Volkskünstler der Russischen Republik“ (1980). 1990 verlieh man ihm den Staatspreis der Sowjet Union. Dennoch verzögerten sich die Uraufführungen seiner großen Werke, wie etwa der 2006 erstmals konzertant inszenierten Oper „Die Passagierin“, deren szenische Uraufführung erst vier Jahre später erfolgte. Weinbergs Requiem hatte Premiere 2009. Fanning vermutet, dass der Stoff dieser Werke den sowjetischen Entscheidungsträgern zu unangenehm war. In der Zeit ohne Aufträge für Konzertstücke rettete ihn das Schreiben von Filmmusik, wie es ebenso bei Arvo Pärt der Fall war.
Viel Platz widmet Fanning der Oper „Die Passagierin“ nach dem Roman der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz (geb. 1923), die das KZ Auschwitz überlebt hat. Der Librettist Alexander Medwedjew, fuhr mit der Autorin dorthin, um die Bedingungen kennenzulernen, in denen sie gelebt hatte. Weinberg verwendete in dem Werk die Zwölftontechnik und beendete es 1968. Fanning beschreibt den Inhalt der Oper sehr bewegend, besonders die Schlüsselszene, als der Häftling Tadeusz vor SS-Männern die Chaconne von Bach auf der Geige spielt.
Weinberg hat sein Herkunftsland nicht vergessen. Polen blieb tief in seinem Herzen, was besonders seine Lieder zu Gedichten von Elżbieta Szemplińska, Julian Tuwim, Leopold Staff und Władysław Broniewski widerspiegeln. Weinbergs „Drei Romanzen“ op. 22 basierten auf den Texten des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz. Bei einigen seiner Sonaten oder Klavierminiaturen (op. 31 und 34) ließ er sich von Chopin inspirieren. 1952 schrieb er die „Zwei Polnischen Tänze für Xylofone und Orchester“ – Kujawiak und Oberek, deren Manuskript verschollen ist. In der 3. Symphonie gibt es ein verarbeitetes belarussisches und ein polnisches Volkslied.
Beim Lesen des Buchs habe ich überlegt, ob Weinberg ein besseres Schicksal gehabt hätte, wenn er nach dem Krieg nach Polen zurückgekehrt wäre. Wahrscheinlich hätte er dort unter ähnlichen Bedingungen gelebt und gearbeitet. 1968 hätte er vermutlich infolge der von Władysław Gomułkas Regierung gestarteten Kampagne gegen die Bürger jüdischer Herkunft das Land verlassen müssen. In Russland hingegen fand er viele Freunde unter den einheimischen Musikern, die ihm halfen und seine Werke aufführten. Die wertvollste Freundschaft war bestimmt die Beziehung zu Dmitri Schostakowitsch und dessen Fürsorge für den jüngeren Kollegen, nicht nur in künstlerischer, sondern auch rein menschlicher Hinsicht.
Mieczysław Weinbergs Werk ist aufgrund seines humanistischen und kriegsfeindlichen Charakters heute mehr denn je der Erinnerung wert. Es lohnt sich wirklich, seine Biographie zu lesen. David Fanning schildert sowohl das Leben des Komponisten als auch seine Werke anschaulich, bunt und interessant. Abschließend zitiere ich das Motto aus Weinbergs Oper „Der Idiot“ nach dem Roman von Fjodor Dostojewski: „Mitgefühl ist das einzige Gesetz für die Menschheit“.
Jolanta Łada-Zielke, 16. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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