Foto: Henry VIII, Brüssel © Baus
Der für seine grandiosen Inszenierungen von Werken der “Grand Opéra” bekannte Regisseur Olivier Py (man erinnere sich u.a. an seine Inszenierung der Hugenotten und des Propheten von Meyerbeer, der Jüdin von Halévy) nimmt sich jetzt des monumentalen Werks “Henry VIII” von Camille Saint-Saëns an. Mit Alain Altinoglu am Dirigentenpult gelingt der Oper “La Monnaie” ein großartiges Opernfest, das sowohl szenisch, wie auch musikalisch den Zuschauer, bzw. Zuhörer fesselt. Diese selten gespielte Oper von Saint-Saëns steht seiner viel berühmteren Grand Opéra “Samson et Dalila” kompositorisch in nichts nach.
Brüssel, La Monnaie, 11. Mai 2023 PREMIERE
Camille Saint-Saëns
HENRY VIII
Oper in vier Akten und sechs Bildern
Musikalische Leitung Alain Altinoglu
Inszenierung Olivier Py
Bühnenbild und Kostüme Pierre-André Weitz
Symphonieorchester der Oper “La Monnaie”, Brüssel
Chor der Oper “La Monnaie” (Leitung: Stefano Visconti)
Henry VIII Lionel Lhote
Catherine d’Aragon Marie-Adeline Henry
Anne de Boleyn Nora Gubisch
Don Gomez de Féria Ed Lyon
Cardinal Campeggio Vincent Le Texier
von Jean-Nico Schambourg
Drei volle Stunden Musik verteilt auf vier Akte und sechs Bilder dauert die Geschichte des Aufstiegs von Anne Boleyn zur Königin Englands. Wir wissen, dass in der Realität ihr Aufenthalt auf dem englischen Königsthron nicht von allzu langer Dauer war. Um genau zu sein: nicht ganze drei Jahre, von 1533 bis 1536. Seither haben sich die Gepflogenheiten am englischen Hof allerdings ein wenig beruhigt! Zumindest wird nicht mehr geköpft, auch wenn manchmal noch Köpfe rollen.
Zurück zur Operngeschichte von Saint-Saëns. Henry VIII will sich von seiner katholischen Frau Catherine d’Aragon scheiden lassen um Anne Boleyn, Reformistin, zu heiraten. Diese Trennung wird auch geschichtlich von Bedeutung sein, da diese die Abspaltung Englands von der römischen Kirche, die diese Scheidung nicht erlauben will, mit sich ziehen wird. Henry VIII zieht sie mit Hilfe des englischen Volkes durch. Catherine muss ins Exil nach Kimbolth. Aber auch Anne Boleyn wird nicht richtig glücklich. Sie befürchtet, dass der König ihre frühere Liaison zu Don Gomez entdeckt. Catherine d’Aragon will die kompromittierende Briefe von Anne an Don Gomez an den König weiterleiten, wirft diese dann aber schlussendlich ins Feuer und verstirbt mit ihrem Geheimnis. Henry VIII schwört fortan alle köpfen zu lassen, die ihn verraten haben!
Die vorliegende Geschichte war für Saint-Saëns ein willkommener Aufhänger für das Komponieren einer Oper über die, um 1880, aktuellen Diskussionen in Frankreich betreffend Trennung von Religion und Staat, aber auch betreffend die Wiedereinführung des Scheidungsrechtes. Das Scheidungsgesetz wurde 1884 in Frankreich wieder eingeführt und Saint-Saëns konnte davon selbst profitieren!
Dieser gesellschafts-politische Hintergrund interessiert Olivier Py ganz besonders. Die an sich bürgerliche Dreiecksbeziehung Henry-Catherine-Anne zeichnet er parallel zu dem Politikum der Konfrontation Staat-Religion. Das “Projekt Scheidung”, wie er es selbst bezeichnet, ist für Henry VIII nicht nur ein privater Austausch seiner Ehefrau durch eine neue Maîtresse. Es ist vielmehr die willkommene Gelegenheit, die politischen Verhältnisse in seinem Land zu verändern. Er will seine politische Macht ausbauen und den Einfluss der römischen Kirche schmälern, ja aus seinem Königreich ganz verbannen. Auch in der heutigen Zeit kann man gemäß Olivier Py solche Reibungspunkte zwischen weltlicher Gesellschaft und Religion noch bemerken. Man denke nur an die problematische Haltung der Kirche gegenüber der Heirat für Gleichgeschlechtige.
Paradox, ja fast pervers, zeigt die Inszenierung, dass der eigensinnige, brutale Monarch durch sein Einstehen zur Scheidung zum Wegbereiter einer fortschrittlicheren, offeneren Gesellschaft wird, während die brave, treue Königin Catherine d’Aragon, durch ihren katholischen Glauben, diesen sozialen Fortschritt hemmen will.
Der unaufhaltbarer Fortschritt wird auch szenisch untermauert durch eine Dampflokomotive, die im letzten Bild von hinten in das das Bühnenbild einbricht.
Das Bühnenbild ist flexibel und erlaubt somit schnelle Szenenwechsel. Riesige Bilder mit religiösen Motiven, ganz im Stile der alt-italienischen Meister, unterbrechen in einigen wenigen Szenen den erdrückenden Eindruck des vorwiegend in Schwarz gehaltenen Bühnenbildes einer Stadt bei Nacht. Besonders beeindruckend ist die Szene in der es zum Bruch mit der Kirche kommt. Wie ein glühendes Feuer sitzt der Chor, in rote Priestergewände gekleidet und mit rotem Licht beleuchtet, auf einer Tribüne und drückt sein Mitgefühl aus für Catherine d’Aragon. Dann reißen sie sich die Priestergewände vom Leib und es erscheint, in seinen schwarzen Anzügen, das Volk, das dem König seine Unterstützung ausspricht und Catherine verurteilt.
Fast alle Kostüme sind in Schwarz gehalten und deuten auf die Uraufführungszeit der Oper hin. Nur Henry VIII steigt manchmal kurz in die historischen Kostüme des 16. Jahrhunderts. Anne Boleyn ist anfangs der Oper in Rot gekleidet, als Objekt der glühenden Begierde des Königs. Später, als Königin, hat sie sich dem schwarzen Uniformismus der anderen Figuren angepasst.
Uraufgeführt wurde die Oper am 5. März 1883 an der Pariser Oper. Die Brüsseler Aufführung zeigt die ganze Oper wie bei der Weltpremiere. Mehrere Striche in der Partitur werden somit wieder geöffnet, denn die Pariser Oper hatte nach vier Vorstellungen einige Kürzungen, aus praktischen Gründen, vorgenommen. So sieht man das dramaturgisch wichtige erste Bild mit sieben Szenen des dritten Aktes, wo man die Entschlossenheit des Königs erkennt, seine Scheidung auch gegen den Willen Roms durchzusetzen. Die Konfrontation mit dem römischen Legaten erinnert sehr an die Szene König-Großinquisitor in “Don Carlo” von Giuseppe Verdi. Durch die darauf folgende Soloszene des Legaten gewinnt dessen Rolle an Kontur und Gewicht. Auch das große Finale des zweiten Aktes mit Oktett hat man restauriert.
Und damit man auch nichts von der Musik von Saint-Saëns verpasst, kann man in der Pause im Foyer der Monnaie das Ballett, das Saint-Saëns zu dieser Oper geschrieben hat, auf Bildschirmen verfolgen. Bei gutem Wetter ist sogar vorgesehen, dass das Ballettkorps der Monnaie, zu der vorher eingespielten Ballettmusik, auf dem Platz vor der Oper live tanzt. Am Abend der Premiere fiel dieses Projekt allerdings buchstäblich wegen Regens ins Wasser.
Die Musik von Saint-Saëns wurde manchmal als zu akademisch bezeichnet. Es stimmt, dass Saint-Saëns, in guter Tradition der französischen Komponisten, sich nie zu einer übertriebenen, affekthaschenden Romantik hinreißen läßt. Typisch für die französische Oper ist die Wichtigkeit, die er der Eleganz des gesungenen Wortes zukommen läßt. Das Orchester unterstreicht die einzelnen Emotionen der Figuren. Ihre Gesangslinien zeigen die psychologische Komplexität ihrer Charaktere. Henry VIII, zum Beispiel, der meistens durch Brutalität und Zynismus gezeichnet wird, zeigt aber in den Momenten seiner Liebeserklärungen an Anne Boleyn echte Zärtlichkeit.
Dieser wird vom belgischen Bariton Lionel Lhote verkörpert, der mit seiner flexiblen Baritonstimme allen Ansprüchen der Partitur gerecht wird. Er besitzt eine exzellente, explosive Höhe, mit der er hervorragend die brutalen und cholerischen Ausbrüche des Königs formen kann. Herrlich wie seine Stimme voll Zynismus klingt, wenn Henry VIII in der wiedereingeführten Konfrontationsszene mit dem päpstlichen Legaten seinen Willen durchsetzen will. Eine weiche Mittellage erlaubt es ihm aber auch die ehrlichen Liebesschwüre von Henry VIII an Anne Boleyn liebevoll, einschmeichelnd auszudrücken.
Anne Boleyn wird gesungen von Nora Gubisch. Mit üppigem Mezzosopran drückt sie sowohl die aufglühende Begeisterung für ihre neue Machtposition als zukünftige Königin aus, als auch, am Schluss, die beklemmende Angst vor der Rache des Königs.
Marie-Adeline Henry verkörpert die unglückliche Königin Catherine d’Aragon, die dem König treu bleibt bis zu ihrem Tode, dies trotz seiner Untreue und Ungerechtigkeit ihr gegenüber. Ihre Stimme verkörpert diese Reinheit der Königin. Im Duett mit ihrer Rivalin weiß sie aber auch aggressive Töne anzuschlagen, wenn sie ihr vorwirft, den König zu verführen. Sehr bewegend gesungen ist ihre Arie im vierten Akt “O cruel souvenir”. Wie bei allen anderen Sängern dieses Abends ist die französische Aussprache makellos, eigentlich die selbstverständliche Voraussetzung für einen gelungenen französischen Opernabend.
Ed Lyon singt Don Gomez de Féria, den unglückliche Liebhaber von Anne Boleyn, eine Rolle, die stimmlich in der Tradition eines Mozart-Tenors liegt. Vincent Le Texier singt mit kavernösem Bass den päpstlichen Legaten. Auch alle anderen Sänger kleinerer Rollen sind adequat besetzt.
Am Dirigentenpult zieht Alain Altinoglu die Fäden. Er hat das richtige Gespür für diese französische Musik, die noch zum Teil in der Tradition der “Grand Opéra” steht, und doch schon musikalische Brücken zu späteren Komponisten wie Debussy schlägt. Dass die Sänger immer gut zu verstehen sind und nicht vom großen Orchester überdeckt werden, liegt nicht nur am intelligenten Aufbau des Bühnenbildes, das viele Reflexionsflächen bietet, die den Gesangstimmen zugutekommen. Nein, auch das rücksichtsvolle, aber doch zupackende Dirigat von Altinoglu trägt einen Großteil hierzu bei.
Er läßt sein Orchester mit den Sängern mitsingen, so wie es die Partitur von Saint-Saëns vorschreibt: das Orchester unterstützt die Gesangslinien. Es hat keine kommentierende Funktion wie bei Leitmotiven. In den rein instrumentalen Passagen oder in Ballettszenen läßt der Dirigent das Orchester aufblühen und in wunderbaren eigenen Melodien schwelgen.
Der Chor singt klangvoll und präzise und rundet mit seiner guten Leistung das Bild eines gelungenen Premierenabends ab. Viel Beifall am Schluss für alle Beteiligten.
Jean-Nico Schambourg, 13. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Camille Saint-Saëns, Samson et Dalila, Staatsoper Unter den Linden Berlin, 27. November 2019
Camille Saint-Saëns: Samson et Dalila Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 24. November 2019
Camille Saint-Saëns, SAMSON ET DALILA, Elina Garanca, Wiener Staatsoper