TARMO PELTOKOSKI, 2021 © www.peterrigaud.com
Carte blanche Nr. 1
Programm:
Ralph Vaughan Williams: Sinfonie Nr. 5 D-Dur
Arnold Schönberg: „Verklärte Nacht“ op. 4
(Bearbeitung für Streichorchester vom Komponisten, Revision 1943)
Johannes Brahms: Klavierquartett Nr.1 g-Moll op. 25
Tarmo Peltokoski Dirigent und Klavier
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Sendesaal Bremen, 15. März 2024
von Gerd Klingeberg
Romantische bis spätromantische Hochkaräter sind angekündigt für „Carte blanche Nr. 1“. So heißt das neue Konzertformat, zu der die Deutsche Kammerphilharmonie erstmalig in den bis auf den letzten Platz besetzten Bremer Sendesaal eingeladen hat. Für die Programmabfolge ist diesmal einzig und allein der dirigentische Superstar Tarmo Peltokoski verantwortlich.
Der „Principal Guest Conductor“, so der offizielle, von der Kammerphilharmonie eigens geschaffene Titel für das junge finnische Multitalent, mag es ganz offensichtlich reichlich gefühlsbetont: Er hat die Sinfonie Nr. 5 D-Dur von Ralph Vaughan Williams an den Anfang gesetzt. Mitten im 2. Weltkrieg entstanden, verströmt das Werk des damals 70 Jahre alten Komponisten ausgeprägte Melancholie. Die feinfühligen Ausführungen der Kammerphilharmonie unterstreichen diese mitunter bis ins Jenseitige abdriftende Atmosphäre. Aber Peltokoski setzt auch markante Akzente, lässt mutiger, zupackender aufspielen, ohne den grundlegenden Charakter des Werkes zu konterkarieren. Die besten Möglichkeiten bietet der Scherzo-Satz mit seinen markanten Rhythmen, aus denen es hier und da munter aufploppt, um schließlich unauffällig davonzuhuschen.
Unendlich berührend erklingen in der anschließenden Romanza die hauchfeinen Harmoniegewebe, in die hinein das Englischhorn eine zu Herzen gehende elegische Melodie anstimmt. „Nachklang aus einer entlegenen harmonischen Welt, Seufzer des Engels in uns!“: so hatte der Dichter Jean Paul einmal über Musik sinniert. Das passt genau. Der Mittelteil imponiert mit hymnischem Aufblühen von gleißender Strahlkraft, bis alles nach lange vorbereiteten Diminuendo ins Pianissimo-Nirgendwo entfleucht. Die wuchtige Passacaglia des Finalsatzes vermittelt, ganz britisch, eine gehörige Portion an „Pomp-and-Circumstance“-Stimmung, bis auch sie in elysischem Säuseln verhaucht. Romantik pur, gerne auch mit gehörig zuckriger Kuvertüre, warum nicht.
Es geht sogar noch besser. Zu Arnold Schönbergs Tondichtung „Verklärte Nacht“ (in der 1943 revidierten Fassung für Streichorchester) wird die Saalbeleuchtung stimmungsvoll auf ein Minimum heruntergedimmt. Entsprechend schlummerleise erfolgt das einleitende Dämmer-Pianissimo des Ensembles: Bloß niemanden stören! scheint die Devise zu sein. Jetzt ist Zeit zum genüsslichen Zurücklehnen und Träumen auf den alten, manchmal gemütlich knarzenden Klappsesseln des Sendesaals.
Aber die Melodramatik des vertonten Richard-Dehmel-Poems – dieses arg moralisierend anmutenden Textes, über den man heutzutage wohl eher den Kopf schüttelt –, sie kündigt sich unterschwellig längst an. Gewaltige dynamische Schübe wechseln mit lyrischen Passagen. Dumpf dröhnende Kontrabässe wühlen auf, während scharf attackierende Violinen dagegen halten. Es ist ein Wechselbad überbordender Emotionen, ein erregter Disput zweier Liebender, changierend zwischen Himmelhoch-Jauchzend und Zu-Tode-betrübt-Sein. Da darf das Orchester mit Schmackes in die Vollen gehen, da dürfen Solo-Violine und Solo-Bratsche zum Heulen schön schmachten. Das ist schwelgerische Expressivität, angereichert mit einer ordentlichen Dosis Kitsch-as-Kitsch-can vom Feinsten, selbstverständlich in nahezu unvergleichlicher Kammerphilharmonie-Ausprägung. Grandios!
Nach einer Weile wird das Bühnenlicht wieder etwas heller, wohl um damit anzudeuten: Die so verklärte Nacht geht unaufhörlich einem nicht minder verklärten Morgen entgegen. Das orchestral tachykarde Pulsieren wird zum breiten Fluss, glitzernde Figurationen, leuchtend wie Sterne, lassen erahnen: Alles ist wieder gut. Ein letzter befreiender Seufzer. Aus!
Nein, noch nicht. Einiges an Kondition ist noch erforderlich für ein kammermusikalisches Schwergewicht. Denn jetzt steht noch das Brahms’sche Klavierquartett Nr. 1 an. Den Klavierpart, der bei der Uraufführung von Clara Schumann, ein Jahr später von Brahms selbst gespielt wurde, hat jetzt Peltokoski übernommen.
Mit Sarah Christian (Violine), Christopher Rogers-Beadle (Viola) und Tristan Cornut (Violoncello) hat er drei weitere Vollblutinstrumentalisten an seiner Seite. Die Interpretation gerät packend von Anfang an; mit Elan und Enthusiasmus bringt das Quartett die kernig-kantigen Motivvariationen in bestechender Intensität zum Ausdruck. Das ausgewogene Zusammenspiel lässt zu keinem Zeitpunkt zu wünschen übrig. Die Mittelsätze kommen zwar etwas ruhiger, besinnlicher, aber nicht minder straff; der drängende Impetus überdeckt nicht die innewohnende Unruhe. Die entlädt sich schließlich im 4. Satz Rondo alla zingarese. Zackig, rasant und mit paprikafeurigem Temperament gehen die Vier zur Sache. Da fliegen die Fetzen, pardon: die Bögen und Finger furios über Saiten und Tasten, da geben breite, sehnsuchtsvoll intonierte Partien eine Ahnung von weiten Puszta-Szenerien, bis nach kurzem Atemholen mit neuer Energie angesetzt wird zum finalen, alles überrollenden Presto-Sturmlauf.
Ein Rausschmeißer nach Maß, den das nach immerhin fast drei Stunden Konzertdauer noch immer – oder auch jetzt wieder muntere, hellauf begeisterte Publikum mit frenetischem Beifall quittiert.
Gerd Klingeberg, 16. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gürzenich-Orchester Köln, Programm Nordwind Kölner Philharmonie, 5. Februar 2024