Sir Simon Rattle wirbelt durch Dvořáks Slawische Tänze

CD-Besprechung: Antonín Dvořák, Slawische Tänze 1- 16/Sir Simon Rattle  klassik-begeistert.de, 4. Oktober 2025

CD-Besprechung:

Antonín Dvořák
Slawische Tänze 1- 16

Tschechische Philharmonie
Sir Simon Rattle, musikalische Leitung

Pentatone, PTC5187414

von Dirk Schauß

Die Slawischen Tänze von Antonín Dvořák zählen zu jenen Werken, die sich längst vom Notenpapier gelöst haben. Sie sind Teil einer kollektiven Klangvorstellung geworden, ein klingendes Abbild Böhmens. Wer sie hört, meint, Dörfer, Märkte und Feste vor sich zu sehen – und doch sind sie weit mehr als pittoreske Folklore.
Dvořák schrieb diese Musik 1878 im Auftrag seines Berliner Verlegers Simrock. Der sah nach dem Erfolg von Brahms’ Ungarischen Tänzen eine Marktlücke und wünschte sich Vergleichbares. Dvořák lieferte – aber anders: Er griff nicht auf Volksweisen zurück, sondern erfand eigene Melodien, die so authentisch wirkten, dass sie viele bis heute für überliefertes Liedgut halten. Die Rechnung ging auf. Die Tänze machten ihn in einem Schlag über Prag hinaus bekannt, sie ebneten den Weg nach Wien, Berlin, London. Acht Jahre später, 1886, folgte die zweite Serie, op. 72, orchestraler gedacht, kunstvoller gesetzt, und doch unverkennbar aus derselben Quelle gespeist.

Seither sind die Tänze unzählige Male aufgeführt und aufgenommen worden. Es gibt kaum eine CD-Sammlung, die ohne sie auskäme. Legendär sind die Aufnahmen der Tschechischen Philharmonie unter Václav Neumann, Jiří Bělohlávek, Zdeněk Košler oder Karel Šejna. Jeder dieser Dirigenten brachte eine andere Farbe hinein: Neumann mit nobler Wärme, Bělohlávek mit analytischer Klarheit, Košler mit jugendlicher Energie, Šejna mit altem Prag-Geist. Und wer könnte das besser als dieses Orchester, das die Tänze seit Generationen im Blut hat? So eng verbunden sind beide, dass man fast annehmen möchte: Die Tschechische Philharmonie sei das Instrument, für das Dvořák sie einst komponiert hätte, wenn er schon ein konkretes Orchester im Kopf gehabt hätte.

Gerade deshalb ist es eine kleine Sensation, wenn ein Nicht-Tscheche hier ans Pult tritt. Sir Charles Mackerras war eine Ausnahme, ein Brite mit tschechischem Herz, der in Prag verehrt wurde wie ein Einheimischer. Nun also Sir Simon Rattle. Schon seine Biografie verrät, dass er Dvořák schätzt. Und vielleicht steckt dahinter auch eine persönliche Sympathie: Rattle ist ein Dirigent, der das Tänzerische liebt, den Puls, das Atmen. In Berlin war es die Rhythmik von Mahler oder Strawinsky, die ihn fesselte, und in London die schillernde Leichtigkeit der englischen Moderne. Nun also Dvořák – und das mit einem Orchester, das genau weiß, wie diese Musik klingen muss.

Das Ergebnis zeigt schon im Ersten der Tänze aus op. 46, einem Furiant in C-Dur, wohin die Reise geht. Rattle setzt auf rhythmische Präzision, aber nicht als Dogma, sondern als Spielfreude. Die Akzente scharf, doch der Tanz bleibt biegsam. Im Zweiten, einer Dumka in e-Moll, öffnet sich eine melancholische Welt, die dennoch leicht bleibt – wie eine Trauer, die sich nicht niederdrückt, sondern sanft mitschwingt. Der Dritte, eine Polka in As-Dur, gehört den Holzbläsern. Ihr Glanz, ihr Schalk, ihre Leichtigkeit – das ist pure Philharmonie. Der Vierte in F-Dur klingt warm und sehnsuchtsvoll, als hätte jemand die Tür zum Elternhaus geöffnet.

Und weiter geht es: Der Fünfte in A-Dur sprüht vor Keckheit, federleicht und flink. Der Sechste in D-Dur wirkt so einladend, dass man sich tatsächlich fragt, warum man eigentlich noch sitzt. Im Siebten in c-Moll beginnt das Orchester, mit sich selbst zu scherzen: die Oboe lockt, die Fagotte brummen – fast wie eine kleine Opernszene im Miniaturformat. Der Achte in g-Moll bringt dann noch einmal die ganze Wucht ins Spiel, furios, mitreißend, ein Finale, das das Herz in Wallung bringt.

Die zweite Serie, op. 72, wirkt wie eine Erweiterung des Blickfelds. Der Erste in H-Dur, ein Odzemek, strotzt vor Lebensfreude, als wolle er den Sommer selbst in Töne kleiden. Der Zweite in e-Moll legt eine warme Decke über den Zuhörer, aber eine Decke, unter der es nicht ganz still bleibt. Da lauert eine Spur von Abenteuer. Der Dritte in F-Dur plätschert leicht dahin, fast perlend, während der Vierte in Des-Dur mit seinen fragenden Holzbläsern einen Tonfall anschlägt, der fast schon nachdenklich ist.

Besonders eindrucksvoll gelingt der Fünfte in b-Moll, eine Špacírka, die einen Hauch Noblesse verströmt, als hätte sie sich für den Ballsaal fein gemacht. Der Sechste in B-Dur bringt einen Dialog zwischen Bläsern und Streichern, so fein austariert, dass man unwillkürlich an ein Gespräch bei Wein denkt – keiner will den anderen übertönen, jeder hört zu. Der Siebte in C-Dur fegt dann alle Skrupel beiseite: ausgelassen, schwungvoll, beinahe unverschämt fröhlich. Wer da ernst bleibt, hat entweder keinen Takt im Blut oder ein Herz aus Stein. Der Achte in As-Dur schließlich setzt einen Kontrapunkt. Kein großes Spektakel, sondern ein ruhiger, kantabler Beginn, der langsam wächst. Dvořák zeigt, dass er auch in Zurückhaltung glänzt, und Rattle lässt diesen Moment auskosten.

Pentatone hat das Ganze in eine Klanggestalt gefasst, die weiträumig und transparent zugleich ist. Man hört jedes Detail, ohne dass die Balance verloren geht. Das Schlagwerk klingt präsent, aber nicht aufdringlich, die Holzbläser leuchten, die Streicher glühen. Kurz: Man sitzt nicht nur im Konzertsaal, man sitzt fast im Orchester.

So entsteht ein Eindruck, der über bloße Brillanz hinausgeht. Rattle liefert keine akademische Studie ab, sondern eine Aufführung, die Freude macht, Humor hat und ein bisschen mit den Augen blinzelt. Man spürt die Tradition, und man spürt gleichzeitig die Lust, sie neu zu beleben. Genau das ist die Kunst: Musik, die man schon tausendmal gehört hat, so zu spielen, dass sie wieder frisch klingt, überraschend, lebendig. Diese Tänze sind nicht bloß tschechisches Kulturgut, sie sind Weltmusik – und in dieser Aufnahme vor allem eines: ein Stück pure Lebensfreude.

Dirk Schauß,  4. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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