Schreckenlose Schönheit: Rafael Payare dirigiert Hector Berlioz

CD-Besprechung: Berlioz, Le Carnaval romain, Symphonie fantastique  klassik-begeistert.de, 17. Oktober 2025

CD-Besprechung:

Hector Berlioz
Le Carnaval romain
Symphonie fantastique

Montreal Symphony Orchestra – Rafael Payare
Pentatone PTC 5187 (SACD)

von Dirk Schauß

Schönheit ist manchmal der schlimmste Feind der Musik. Rafael Payare, dieser charmante Überzeugungstäter mit dem eleganten Schlag, hat sich Berlioz vorgenommen – und liefert bei Pentatone eine „Symphonie fantastique“, die technisch glänzt, aber selten glüht. Ein Rausch mit angezogener Handbremse.

Schon der Carnaval romain zeigt, wo’s langgeht: alles quicklebendig, rhythmisch präzise, wunderbar federnde Holzbläser. Das Montreal Symphony Orchestra klingt brillant, geschliffen, hochprofessionell. Aber das ist kein Karneval, das ist ein Kurkonzert mit guter Beleuchtung. Die Farben sitzen gut, nur – sie dürfen nie kleckern. Kein Lärm, kein Rausch, kein Schmutz. Berlioz’ ausgelassene Maskerade wirkt hier wie frisch gebügelt.

Dann die „Symphonie fantastique“. Gleich zu Beginn, im ersten Satz (Rêveries – Passions), spürt man Payares Qualitäten: feines Formbewusstsein, Sinn für Farbe, alles wohldosiert. Nur – die Musik will fiebern, taumeln, brennen. Hier träumt keiner, hier ordnet einer. Die „Passion“ bleibt ein gepflegtes Gefühl, kein Absturz. Berlioz hat das Stück als Selbstversuch eines Besessenen geschrieben; Payare verwandelt es in ein durchdachtes Stimmungsbild. Beeindruckend, aber nett und harmlos.

Der zweite Satz (Un bal) gleitet elegant dahin – und das ist eher schon das Problem. Die Harfen schimmern, das Orchester tanzt mit Pariser Chic, als sei es auf Einladung des Bürgermeisters. Nur leider geht der Schwindel verloren, dieses betörte Taumeln, das aus einem Ballsaal plötzlich ein Delirium macht. Hier bleibt alles hübsch – und hübsch ist nicht aufregend.

Im dritten Satz (Scène aux champs), zeigt Payare, was er wirklich kann. Da atmet alles, die Streicher leuchten, die Bläser sind zum Niederknien. Es ist schön. Vielleicht zu schön. Man sitzt da, genießt, bewundert – und fragt sich irgendwann: Wo bleibt der Schmerz? Der Satz wird zur Meditation, nicht zur seelischen Beichte. Ein Abendhimmel, den man lieber fotografiert als erlebt.

Dann kommt der Gang zum Schafott – der Höhepunkt, eigentlich. Nur baut Payare hier eine dieser irritierenden dramaturgischen Ideen ein, die man eher in der Regie eines zu modernen Theaterabends erwartet. Er zieht die Lautstärke plötzlich zurück, um dann die Hinrichtung in einem Crescendo aufzubauen. Hübsch gemeint, aber völlig gegen den Strich der Partitur. Berlioz beschreibt einen Schlag, keinen Spannungsbogen. Das Beil fällt – zack! –, und nicht mit freundlicher Vorankündigung.

Der Schluss (Songe d’une nuit de sabbat) müsste alles zusammenfegen: Hysterie, Höllenlärm, grotesker Jubel. Nur kommt hier kein Sabbat, sondern ein gepflegtes Hexentreffen mit Aperitif. Die Totenglocken klingen korrekt, die Dämonen singen sauber intoniert, und selbst das Schlagwerk hat gute Manieren.

Dabei: Das Montreal Symphony Orchestra spielt schlicht großartig. Präzision, Klangfarben, Transparenz – alles vom Feinsten. Die Tonmeister von Pentatone liefern ohnehin eine Klangbühne, auf der man Musiker beim Atmen hört. Aber irgendwann wünscht man sich, jemand würde mal ausrasten, eine Trompete zu laut, eine Pauke zu hart, irgendwas Unberechenbares. Es bleibt, um es böse zu sagen, die Symphonie domestique.

Payare selbst hat, das zeigen auch Konzertkritiken etwa aus Berlin oder Montreal, ein Händchen für Klangbalance. Er liebt Struktur, liebt Kontrolle. Nur: Berlioz ist kein Architekt. Berlioz ist ein Brandstifter. Und Payare löscht ihm die Flammen.

Man muss das nicht schlecht finden. Wer Berlioz lieber als nobel gestaltetes Klangkunstwerk hört, wird hier glücklich. Diese Aufnahme hat Stil, Eleganz, und sie nervt nie. Aber wer den wahnhaften Rausch sucht, den man bei Bernstein oder Munch bekommt, wird sich hier fragen: Wo ist das Leben, wo der Schock, wo das Unerhörte?

Payare inszeniert die „Fantastique“ wie ein glänzend kuratierter Museumsraum – alles gut ausgeleuchtet, kein Staub, kein Risiko. Das ist zweifellos respektabel, manchmal sogar faszinierend. Nur brennt nichts. Und bei Berlioz sollte es wenigstens ein bisschen qualmen.

Fazit: Fein gespielt, nobel produziert, schön anzuhören – aber zu zivilisiert, um gefährlich zu sein.

Dirk Schauß, 17. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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