Herbstliche Klarheit – Nagano dirigiert Brahms’ dritte und vierte Sinfonie

CD-Besprechung: Kent Nagano / Brahms  klassik-begeistert.de, 20. Juni 2025

CD-Besprechung:

Johannes Brahms
Sinfonien 3 und 4

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano, musikalische Leitung

BIS-2374

von Dirk Schauß

Kent Nagano, dessen langjährige Amtszeit als Generalmusikdirektor des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg im Jahr 2025 ausklingt, verabschiedet sich mit einer Einspielung, die als künstlerisches Vermächtnis verstanden werden darf.
Passend zur norddeutschen Noblesse des Hauses und zur hanseatisch geprägten Haltung des Dirigenten wendet er sich ausgerechnet jenen beiden Sinfonien Johannes Brahms’ zu, die wie keine anderen zwischen Innerlichkeit und Aufbegehren, zwischen Erfüllung und Rückzug balancieren: der Dritten und der Vierten.

Aufgenommen wurden die Werke live im Konzert in der Elbphilharmonie – und doch klingt nichts auf dieser neuen BIS-Veröffentlichung nach Bühnenpräsenz oder Premierenfieber. Vielmehr ist es eine durchgeistigte, deutlich kontemplative Lesart zweier Werke, die den Symphoniker Brahms in all seiner Zerrissenheit zeigen – und zugleich in seiner größten Meisterschaft.

Die dritte Sinfonie in F-Dur, op. 90, vielleicht die rätselhafteste der vier, wird von Nagano und dem ihm über Jahre vertrauten Orchester mit bemerkenswerter Schlankheit und Ausgeglichenheit interpretiert. Was hier sofort auffällt, ist die extreme Durchhörbarkeit der Stimmen. Die Holzbläser – ohnehin eine Stärke des Hamburger Klangkörpers – singen förmlich, ihre Linien sind von einer lyrischen Kantabilität, die sich in das gesamte Geflecht einschreibt.

Kein symphonisches Pathos, kein spätromantischer Überschwang, sondern eine Art intellektuelle Klarheit, die dennoch nie ins Kalte kippt. Das erste Thema hebt an wie ein schwerer Atemzug, und Nagano versteht es überzeugend, den Puls der Musik organisch zu führen, das Atmen der Phrasen nicht zu stören. Besonders beeindruckt das Finale, das – wie alle vier Sätze – in Ruhe endet. Gerade dieses Ausblenden, dieses Verlöschen ins Unbestimmte wird hier zu einem Bekenntnis: Brahms, der Suchende.

Die vierte Sinfonie in e-Moll, op. 98, ist vielleicht noch dichter gestaltet. Schon der Beginn – wie aus dem Nichts, gleichwohl präzise fokussiert – verrät die Handschrift des Dirigenten. Naganos Brahms ist kein Schwelger. Er vertraut auf Linien, auf Struktur, auf die Redlichkeit der musikalischen Aussage. Die Phrasen heben an und sinken wieder zurück, wie Wellen in einem schweren, unergründlichen Meer. Dabei bleibt die Dynamik stets fein balanciert – man hat nie das Gefühl, dass sich das Orchester in den großen Ausbrüchen verliert.

Gerade das zweite Allegro non troppo mit seiner zurückgenommenen, fast liturgischen Haltung erhält so eine ungeahnte Tiefe: eine stille Prozession durch einen herbstlichen Klangraum. Der dritte Satz, dieses lichtdurchflutete Allegro giocoso, kommt mit federnder Leichtigkeit daher, ein Aufblitzen reiner Freude, das umso kostbarer wirkt im Rahmen dieser grundiert ernsten Musik.

Und dann das Finale – jene barocke Chaconne, die Brahms zu einem Abgesang auf das Sinfonische stilisiert. Unter Nagano wird dieser Satz zur jenseitigen Meditation: resignativ, abgeklärt, aber nicht kraftlos. Eher: von einer erschütternden Würde.

Technisch ist die Aufnahme makellos. Der Klang bleibt stets natürlich, mit großer Dynamikspanne und einer unaufdringlichen Räumlichkeit. Man spürt das Live-Moment, aber nie auf Kosten der klanglichen Durchzeichnung. Die Produktion von BIS bleibt sich in ihrer hohen Qualität treu – eine Aufnahme, die man laut hören kann, ohne dass etwas dröhnt, oder leise, ohne dass Details verloren gingen.

So entsteht insgesamt ein Bild von Brahms, das fern aller romantischen Wuchtigkeit neue Facetten freilegt. Kent Nagano zeigt einen Brahms, der nach innen schaut, der seine Komplexität nicht ausstellt, sondern durchatmet. Einen Brahms, der nicht um jeden Preis gefallen will.

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg spielt dabei mit einer Noblesse, die aus der langen gemeinsamen Reise mit Nagano gewachsen ist – geschmeidig, transparent, und doch mit einem warmen, tragfähigen Grundton.

In ihrer Balance von Herbheit und Innigkeit, von Formbewusstsein und atmender Flexibilität ist diese Einspielung ein Geschenk – und ein bleibendes Zeugnis musikalischer Freundschaft.

Dirk Schauß, 20. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Daniel Cho, Alexei Volodin, Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg Teil 1

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