CD-Besprechung:
Das duftet förmlich: Seong-Jin Cho spielt das Gesamtwerk für Soloklavier von Maurice Ravel.
Maurice Ravel (1875-1937) – The Complete Solo Piano Works [Das Gesamtwerk für Klavier solo]
Seong-Jin Cho, Klavier
Deutsche Grammophon, DG 486 6814
von Brian Cooper, Bonn
Am 7. März 2025 jährt sich Maurice Ravels Geburtstag zum 150. Mal. Ein schöner Anlass, die vielen brillanten Werke wiederzuentdecken, die uns der Komponist aus Ciboure im französischen Baskenland hinterlassen hat. Darunter eine Vielzahl an Werken für Klavier solo.
Im vorliegenden Fall widmet sich der südkoreanische Pianist
Seong-Jin Cho dem Gesamtwerk (freilich ohne La valse) auf 2 CDs; in ein paar Tagen erscheint Chos Lesart der beiden Klavierkonzerte, aufgenommen mit dem Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons. Und wer noch warten möchte: Beide genannten Veröffentlichungen erscheinen demnächst zusammen in einem Luxusschuber.
Brauche ich das?
Nun höre ich schon die Heerscharen musikaffiner Menschen ungeduldig fragen: Brauche ich Chos Solo-Ravel, Herr Doktor, wo ich doch die Gesamteinspielungen von Robert Casadesus, Samson François, Walter Gieseking, Louis Lortie und Alexandre Tharaud bereits im Regal habe (man beachte die Vielzahl französischer bzw. im Falle von Lortie frankophoner Namen!), sowie natürlich den Gaspard de la nuit mit Argerich, Gulda und Pogorelich? Ich habe doch alles, was es an großartigen Ravel-Interpretationen gibt. Brauche ich den Cho noch dazu?
Die Antwort, so der Doktor, lautet nein. „Brauchen“ ist nämlich sehr relativ. Was Sie brauchen, verehrte Ravelianer, sind eine Handvoll lieber Menschen um Sie herum und ein halbwegs gesunder Lebenswandel. Damit Sie lange genug leben, um das alles zu hören. Also imitieren Sie Ravel lieber nicht, rauchen Sie weniger, hören Sie am besten ganz mit dem Brauchen auf.
Luzide Momente
Aber, und jetzt kommt’s: Diese Einspielung vom Gewinner des Chopin-Wettbewerbs 2015 lohnt sich. Sie steckt voller luzider Momente, das Album ist zudem herrlich aufgenommen, und spätestens ab der Sonatine ist man in einem Sog und kann nicht genug bekommen. Das liegt natürlich in erster Linie an Ravel, aber eben auch an Cho.
Wenn Sie also diese Gesamtaufnahme als erste kaufen, weil Sie noch gar keine besitzen (was bedauerlich wäre), dann ist dies ein sehr guter Anfang. Denn das Album hat Klasse. Lehnen Sie sich zurück, und hören Sie einfach zu, wie diese Jeux d’eau perlen!
Schaut man sich die Titel an, ist man verblüfft, wie viele davon Bezüge zu Tanzmusik aufweisen. Und gerade das Tänzerische des Menuet Antique etwa, des Tombeau de Couperin wie auch der Valses nobles et sentimentales bereitet großes Hörvergnügen – so voller Charme ist das unter Chos Händen. Hier wünschte man sich, dass La valse auch auf diesem Album zu hören wäre. Die berühmte Pavane erklingt entwaffnend naiv und kindlich.
Unaufdringliche Virtuosität
Eine weitere Stärke des Albums ist Chos große Virtuosität, die sich jedoch nie in den Vordergrund drängt (ein Grund, warum ich Liszt nur sehr wenig abgewinnen kann). Natürlich wartet man auf den Gaspard de la nuit (CD 2), mit seinem klangprächtigen Ondine-Kopfsatz, dem gruseligen Galgen-Mittelsatz (Le gibet) und dem teuflisch schweren Scarbo: Cho spielt es phänomenal und mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. Ähnliches gelingt ihm auch in den Miroirs, so vor allem im ersten (Noctuelles), dritten (Une barque sur l’océan) und vierten Teil (Alborada del gracioso).
Das alles ist sehr subtil, das duftet nach leichtem Parfum. Und es macht sehr viel Freude, Seong-Jin Chos betörenden Ravel zu hören. Hoffentlich demnächst auch live. Gehen Sie unbedingt hin: Reine Ravel-Abende sind selten.
Dr. Brian Cooper, 17. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Concertgebouworkest, Manfred Honeck, Dirigent Concertgebouw, Amsterdam, 9. Februar 2025
Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša Kölner Philharmonie, 7. Februar 2025
RPO, Julia Fischer, Violine, Vasily Petrenko, Dirigent Kölner Philharmonie, 2. Februar 2025