CD-Besprechung:
„Like Flesh“ ist mehr als eine Opern-CD – es ist eine Erfahrung, die so ganz anders ist. Ein Werk, das zeigt, wie vielsagend und relevant Oper von heute sein kann. Nach 90 Minuten wirkt das Erlebte stark in einem nach. Und das ist vielleicht das größte Kompliment, das man einem Werk machen kann.
Sivan Eldar
Like Flesh
Le Balcon, Orchester
Maxime Pascal, musikalische Leitung
b-records, LBM077
von Dirk Schauß
Es passiert selten, dass eine Opernpremiere eines aktuellen Werkes unter die Haut geht. Als im Januar 2022 in der Opéra de Lille der Vorhang zu Sivan Eldars „Like Flesh“ fiel, war klar: Hier war etwas Ungewöhnliches entstanden. Die israelische Komponistin hat mit ihrer ersten Oper ein Werk geschaffen, das einen wirklich beschäftigt. Gemeinsam mit der britischen Librettistin Cordelia Lynn entstand eine moderne Interpretation von Ovids Metamorphosen, die unsere zerbrochene Beziehung zur Natur in den Mittelpunkt stellt. Ein aktuelles Lebensthema, für das Eldar ein breites Spektrum an Klängen und Farben nutzt.
Das Werk „Like Flesh“ ist keine gewöhnliche zeitgenössische Oper – sie ist eine Vision, die antike Mythologie mit unserer Zeit verbindet. Diese Live-Aufnahme von b-records dokumentiert nicht nur eine Premiere, sondern den Beginn einer neuen Sprache im Musiktheater.
Worum geht es? Die Geschichte einer Frau, die in ihrer Ehe erstickt und sich nach einem Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge sehnt, könnte banal klingen. Doch in Eldars Händen wird sie zu einer universellen Parabel über Transformation und Befreiung. Die heimliche Liebe zu einem jungen Menschen löst eine radikale Metamorphose aus – die Frau verwandelt sich in einen Baum und findet endlich Frieden.
Aber auch als Baum ist sie nicht sicher. Ein Förster und ihr Liebhaber kämpfen um ihren Körper aus Holz und Blättern. Der eine will Profit, der andere glaubt an Liebe. Die Natur wird zum Schauplatz menschlicher Gier und Obsession.
Eldars Musik macht diese Verwandlung hörbar. Sie komponiert nicht über die Natur, sondern lässt sie selbst sprechen. Das Orchester verschmilzt mit der Elektronik zu einem organischen Ganzen, in dem jeder Klang seinen Platz hat. Die Stimmen der drei Solisten verweben sich mit einem sechsstimmigen Chor, der die Stimme des Waldes verkörpert. Man hört das Rauschen der Blätter, das Knarren der Äste, das verborgene Leben der Erde.
Besonders faszinierend ist die Behandlung der Hauptfigur. Die Sängerin muss zwischen menschlichen Emotionen und den fremden Klängen der Pflanzenwelt navigieren. Ihre Stimme wird zum Bindeglied zwischen zwei Welten. Der Chor entwickelt eine eigene Sprache für die Natur – mal bedrohlich, mal verführerisch, immer authentisch.
Die Elektronik, entwickelt am IRCAM, umhüllt den Hörer vollständig. Man sitzt nicht vor der Musik, man ist mittendrin. Die Klänge bewegen sich durch den Raum, schaffen Nähe und Distanz, Intimität und Weite. Es ist, als würde man selbst Teil der Metamorphose werden.
Maxime Pascal und sein Ensemble Le Balcon haben eine außergewöhnliche Leistung vollbracht. Pascal dirigiert die komplexe Partitur so, dass jede Nuance hörbar wird. Seine Musiker folgen ihm in diese ungewöhnliche Klangwelt mit einer Selbstverständlichkeit, die beeindruckt. Die Übergänge zwischen akustischen Instrumenten und Elektronik gelingen nahtlos.
Adèle Carlier bringt als Studentin/Liebhaberin eine jugendliche Intensität mit, die den Funken der Verwandlung glaubhaft entzündet. Hélène Fauchère meistert die Herausforderung der Frau/Baum-Rolle mit beeindruckender Wandlungsfähigkeit. Guilhem Terrail verkörpert den Förster mit einer Härte, die die zerstörerische Kraft der menschlichen Gier spürbar macht.
Der sechsstimmige Chor verdient besondere Anerkennung. Sean Clayton, René Ramos Premier, Florent Baffi, William Dazeley, Helena Rasker und Juliette Allen verwandeln sich von Sängern zu Naturgeistern. Sie finden einen Ton für die Natur, der weder kitschig noch künstlich wirkt. Ihre Fähigkeit, zwischen traditionellem Chorgesang und experimentellen Klangwelten zu wechseln, ist bemerkenswert.
Die Aufnahmetechnik von b-records fängt die Magie des Abends gut ein. Man spürt die Räumlichkeit der Opéra de Lille, die Bewegung der Klänge, die Spannung zwischen den Sängern. Die Live-Atmosphäre überträgt sich unmittelbar. Man wird Teil dieses ungewöhnlichen Rituals, das die Grenzen zwischen Musik und Natur auflöst.
„Like Flesh“ ist mehr als eine Opern-CD – es ist eine Erfahrung, die so ganz anders ist. Ein Werk, das zeigt, wie vielsagend und relevant Oper von heute sein kann. Nach 90 Minuten wirkt das Erlebte stark in einem nach. Und das ist vielleicht das größte Kompliment, das man einem Werk machen kann.
Dirk Schauß, 4. August 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung: Valentin Silvestrov, …flowering over Lethe… klassik-begeistert.de, 2. August 2025
European Doctors Orchestra, Yordan Kamdzhalov VILCO Stadthalle Bad Vilbel, 25. Mai 2025