Ein völlig vergessener österreichischer Spätromantiker betritt erstmals die Tonträger-Bühne

CD-Buch: OSKAR C. POSA: Lieder, Violinsonate, Streichquartett  klassik-begeistert.de, 8. Oktober 2025

CD-Buch: OSKAR C. POSA: Lieder, Violinsonate, Streichquartett; Voilà Records

Das vielleicht wichtigste Album des Jahres: Ein völlig vergessener österreichischer Spätromantiker betritt erstmals die Tonträger-Bühne

von Dr. Ingobert Waltenberger

Oskar C. Posa ist ein Name, der bisher nur wenigen Spezialisten bekannt war. Und wieder einmal sind es französische Forscher und Musiker, denen wir die Realisierung dieses großen und wahrlich essentiellen musikhistorischen und musikalischen Projekts verdanken.

Die Einleitung „Sur les traces d’Oskar“ von Olivier Lalane im 260 Seiten starken CD-Buch (in französischer und englischer Sprache) liest sich wie eine Spurensuche nach der Nadel im Heuhaufen. Man schrieb das Jahr 2020. Lalane stieß auf ein Plakat, das ein Konzert 1905 im Wiener Musikverein ankündigte. Auf dem Programm standen Werke von Alexander Zemlinsky (Die Seejungfrau), Arnold Schönberg (Pelleas et Mélisande) und Oskar C. Posa (Soldatenlieder), allesamt dirigiert von den jeweiligen Komponisten. Es handelte sich um das zweite Orchesterkonzert der Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien, in deren Rahmen Posa als Mitgründer fungierte und wo ausschließlich Neuheiten präsentiert wurden. Diese aus der Not geborene Vereinigung bildete das musikalische Gegenstück zu Gustav Klimts „Sezession“.

Neugierig geworden, um wen es sich bei diesem von Zeitgenossen offenbar geschätzten Oskar C. Posa wohl handele, der mit den beiden Giganten der Wiener Spätromantik/Avantgarde damals offensichtlich auf einer Stufe stand, begann Lalane zu wühlen. Im Internet fand Lalane absolut nichts, nicht den Schatten einer Aufnahme, keine Partitur, kein Foto noch wissenschaftliche Literatur. Ausgangspunkt der vierjährigen Forschungen von Lalane war schließlich eine 1996 verfasste, im Nederlands Muziek Instituut aufgefundene akademische Arbeit von Wolfgang Behrens (seit der Spielzeit 2025/2026 Chefdramaturg der Komischen Oper Berlin), der seine Dissertation diesem – nach Anhören der beiden CDs gewiss bedeutenden – österreichischen Dirigenten und Komponisten gewidmet hat.

Derzeit findet man in Wikipedia einen Kurzeintrag mit rudimentären Informationen: Oskar Posa – sein Vater stammte aus Böhmen, seine Mutter war Wienerin – studierte zunächst die Rechte, wandte sich aber dann ganz der Musik zu. Er fand vor allem Beachtung als Liederkomponist von mehr als siebzig Liedern und Gesängen, auch mit Orchester. Zwischen 1911 und 1913 trat Posa als Konzert- und Operndirigent in Graz auf. In seiner Funktion als Gründungsmitglied, Schriftführer und Obmann der Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien traf er regelmäßig auf Arnold Schönberg, Alexander von Zemlinsky und Richard Strauss. Die Vereinigung war eng mit den Ideen der Wiener Secession verknüpft. Das Gründungsmemorandum wurde, entgegen der bisherigen Annahme, nicht von Arnold Schönberg verfasst, sondern von Posa. Posa promovierte in Wien und wurde Professor an der Staatsakademie. Er starb am 13. März 1951 im Alter von 78 Jahren.“

Was nicht hier steht, ist, dass Robert Fuchs sein Lehrer in Harmonielehre und Kontrapunkt war, der Leopoldstädter mit dem eigentlichen Namen Oskar Carl Posamentir als Dirigent auch in Wien (Volksoper) und Berlin (Lortzing Oper, Schillertheater) wirkte, die Grazer Erstaufführung von R. Strauss’ „Der Rosenkavalier“ 1913 musikalisch leitete, Professor an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien war und 1938 einige Tage nach dem „Anschluss“ wegen seiner jüdischen Wurzeln entlassen wurde.

Über sein Privat- und Gefühlsleben ist mangels so gut wie nichts als objektiv überprüfbar bekannt. Von Julius Röntgen wurde Posa als persönlich sehr sympathisch, ruhig, ja schüchtern, vielleicht ein wenig pessimistisch beschrieben.  Nichts ist darüber bekannt, wie Posa in Wien die Nazizeit überstanden hat.

Zur Veranschaulichung des Lebens von Oskar C. Posa einige weitere biografische Aperçus:

Oskar hatte drei jüngere Schwestern, war ein vorzüglicher Pianist (er spielte mit knapp 16 Jahren öffentlich u.a. das Erste Klavierkonzert von Franz Liszt), studierte ohne jegliche Begeisterung Jus und konvertierte mit 24 Jahren zum Christentum.

Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sah sich Posa gezwungen, eine Karriere als Dirigent zu starten. Daneben engagierte er sich, wie schon erwähnt, in der 1904 gegründeten Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien in verschiedenen Funktionen. Um die Innovationslust, Neugierde und den Mut der althergebrachten Konzertinstitutionen war es in Wien damals alles andere als gut bestellt. Posa und Zemlinsky spielten schon vorher in Konzerten des von letzterem geleiteten Ansorge Vereins.

Ein entscheidender Schritt in der Karriere Posas bildete die Berufung als Erster Kapellmeister und musikalischer Direktor der Grazer Oper ab der Saison 1911/12 (Direktion Julius Grevenberg), eine Funktion, die er mit einer größeren Unterbrechung bis Sommer 1920 innehaben wird. 1917 wird ein gewisser Karl Böhm in Graz Korrepetitor.

1922 übernahm Posa die Leitung der Oper im nordböhmischen Aussig (heute Ústí nad Labem). Als er von dort geht, folgt ihm Josef Krips nach. 1924 entschied sich Posa für eine pädagogische Tätigkeit in Graz, was Energie für neue Kompositionen freilegte, wie sein Opus 16, ein Zyklus von fünf Liedern mit großem Orchester samt Orgel. Professor h.c. am Grazer Konservatorium, markierte das Jahr 1933 das Ende seiner Berufung in Graz.

Bis 1938 lehrte Posa Rollengestaltung in der Oper in seiner Funktion als „Chef Gesang“ am Konservatorium in Wien. Dann machten die Nazis radikal Schluss mit seiner Berufsausübung, keines von Posas Werke wurde (bis zur Einspielung dieses Albums) je wieder aufgeführt, seine letzten ab 1947 entstandenen niemals editiert. Das gilt auch für das im Album präsentierte Streichquartett in F. 1951 starb Posa völlig verarmt und anonym in Wien. Eine gut versteckte Stele eines Ehrengrabs am Zentralfriedhof erinnert heute an diese traurige, von schicksalshafter Grausamkeit durchwirkten damnatio memoriae bislang völlig im Nichts vergrabener Künstlergeschichte.

Zum Werk

Um die Jahrhundertwende begann man, auf seine Lieder aufmerksam zu werden. Der Pianist und Komponist Julius Röntgen (ständiger Klavierpartner des berühmten niederländischen Liedsängers Johannes Messchaert) war voll des Lobes über Lieder wie „Beschwichtigung“, „In einer großen Stadt“ oder „Der Handkuss“, die auch Eingang in das vorliegende Album gefunden haben. Röntgen stellte sie in ihrer Qualität sogar über diejenigen von Hugo Wolf. Nicht alle stimmten in dieses Lob ein. Es gab Kritiker, die ihm formelhaft konventionelles Beharren und stilistische „Phrasendrescherei“ zwischen Schubert und der Moderne vorwarfen. Max Kalbeck ortete im Wiener Tagblatt vom 14.2.1901 beim „sehr begabten“ Posa „eine Neigung zum Bizarren, Gewundenen und Extravaganten.“ All diese Einordnungen sind in Anbetracht der damaligen unversöhnlichen Richtungsstreitigkeiten bzw. beginnender politisch/rassistisch motivierter Urteile nicht mehr relevant.

Nein, Neuerer oder gar Neutöner war Oskar C. Posa sicher nicht, eher ein spätromantische Harmonien deliziös weitender und individuell auskostender Tonsetzer, der in der Kammermusik hörbar mehr Verehrer der opernhaften Gestik von Richard Strauss als der formalen Tüftelei eines Johannes Brahms war. Im Bereich der Instrumentalmusik plagte sich Posa mit der Edvard Grieg gewidmeten Sonate für Violine und Klavier, Op. 7 (1901), deren Erfolg erst einmal nach einer missglückten Uraufführung in Heidelberg auf sich warten ließ. Das traf das ohnedies brüchige Selbstvertrauen des Menschen Posa empfindlich, noch dazu, als sein Verleger Hans Simrock mit ihm brach, die Wiener Konzertinstitutionen ihn ignorierten und finanzielle Engpässe das Leben erschwerten.

Dann immer wieder Lieder. An die 80 sollten es werden, mal mit Klavier- mal mit Orchesterbegleitung. Auf dem vorliegenden Album singt der junge, von virilem Timbre und Ausdruckskraft gleichermaßen fantastische französische Bariton Edwin Fardini, vielfarbig begleitet von Juliette Journaux am Flügel, 24 Lieder, die zwischen 1897 und 1910 entstanden sind. Bei diesen vokalen Preziosen handelt es sich um großartige, meist mit üppigem Klaviersatz versehene Miniaturen auf Lyrik von Huch bis Liliencron, von Dehmel bis Storm. Fardini und Journaux wissen, diese wunderbaren, melodisch-harmonisch hinreißenden Stücke erzählerisch expressiv und klangsinnlich zu beleben. Ich möchte besonders auf die schmerzvollen, nach Texten von Liliencron „Und ich war fern“ bzw. „Die gelbe Blume Eifersucht“ aus Op. 6 verweisen: Spitzenschöpfungen dramatischer Auflehnung, die es mit den besten ihrer Art von H. Wolf aufnehmen können. Aber auch die theatralischen Soldatenlieder Op. 8 haben das Zeug, die internationale Liedgemeinde in Aufruhr zu versetzen.

Die auf dem Album vorgestellten kammermusikalischen Werke, die von den Interpreten leicht gekürzte Sonate für Violine und Klavier, das Streichquartett in F, Op. 18, das Albumblatt für Klavier, das Andante für Cello und Klavier in d-Moll, sind lebendige Zeugen der einzigartigen Stellung, die Posas Werk inmitten der innovativen wie unerschöpflichen Wiener Musikkreation ab der Jahrhundertwende einnimmt.

Im Booklet wird das Miteinander von Violine (Eva Zavaro) und Klavier (Juliette Journaux!) in der Sonate wegen des mehr miteinander Ringens als Dialogisierens passenderweise als ‚liaisons dangereuses‘ bezeichnet. Das technisch enorm anspruchsvolle, dreisätzige Stück entführt die Hörerschaft in mysteriöse Gefilde. Anmutig Elegisches (dolce ed espressivo) weicht – lange vor Shostakovich – immer wieder wild hämmernden Rhythmen. Das Ende des ersten Satzes jagt bedrohlich dahin. Hymnisch arpeggierend scheint die Geige im zweiten Satz immer wieder zu hintergründigen Fragen gelaunt, Themen wie ein Schwamm einsaugend und variierend. Was die beiden Interpreten an Zwischentönen wagen, Irreales und dunkle Nebel lichtend, im dritten Satz von einem Hauch Richard Strauss getränkt, stürzt der Komponist Violine und Klavier in einen frenetischen Strudel. Ich liebe diese so jugendlich emphatische, einem komplexen Innenleben und enormen kompositorischen Könnens abgeluchste Sonate, die sich im Finale rauschhaft lachend in den Abgrund zu stürzen scheint.

Fazit: Wir gehen mit Lalane d’accord, wenn er sagt, Musik ist tot, wenn sie nicht gespielt wird. Die Publikation dokumentiert nicht nur einen bislang nicht berücksichtigten Teil des reichen Musiklebens in Wien und der europäischen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern stellt auch unbequeme Fragen darüber, wie Musikgeschichte geschrieben wird. Im Falle des Oskar C. Posa geht es im Endeffekt um Skylla oder Charybdis, Vergessen oder Auslöschung. Umso verdienstvoller ist die vorliegende Edition, die durch jahrelange Forschungen gestützt, musikalisch (hier ist auch dem schillernden Quatuor Métamorphosis für die glühende Interpretation des späten Streichquartetts zu danken) ohne Vorbehalt überzeugt. Ein erster Schritt ist getan.

Aber um mit Lalane zu sprechen: „Viel ist noch zu tun: Partituren publizieren, die Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft bekommen, das Spätwerk „Thema, Variationen und Fuge für Klavier“, Op. 13, einspielen und die noch über 50 uneditierten Lieder entdecken.“

  • Streichquartett F-Dur op.18
  • Violinsonate op. 7;
  • Albumblatt für Klavier;
  • Andante d-moll für Horn & Klavier;
  • 4 Lieder op. 1 nach Gedichten von Ricarda Huch;
  • Das Blatt im Buch op. 2 Nr. 2; Irmelin Rose op. 2 Nr. 4;
  • 5 Lieder op. 3 nach Gedichten von Detlev von Liliencron;
  • 4 Lieder op. 4 nach Gedichten von Richard Dehmel;
  • Und ich war fern op. 6 Nr. 3; Die gelbe Blume Eifersucht op. 6 Nr. 5;
  • Soldatenlieder op. 8 Nr. 1-5;
  • Unwetter op. 10 Nr. 3;
  • Schließe mir die Augen beide op. 11 Nr. 2;
  • Mondlicht op. 12 Nr. 1

Unverzichtbare Weltersteinspielungen! Das hoch informative Booklet mit reichhaltigen Informationen zu Lebensumständen und Musikgeschichtlichem iZm Oskar C. Posa, detaillierten Werkanalysen, vielen Abbildungen und den Liedtexten ist eine Klasse für sich.

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