CD-Rezension:
Bruce Liu
Waves
Das Album Waves vereint Werke von Rameau, Alkan und Ravel.
Deutsche Grammophon, DG 486 4400
von Brian Cooper, Bonn
Das „literarische“ Genre Künstlervita ist nicht unbedingt das packendste. „Einer der besten/aufregendsten/interessantesten/vielseitigsten Künstler seiner Generation“ liest man allenthalben in den Programmheften. Suchen Sie sich ein Adjektiv aus, Sie haben das bestimmt auch schon mehrfach gelesen.
So viel Bestes, Aufregendstes, Interessantestes und Vielseitigstes kann schon rein statistisch gar nicht möglich sein. Es erinnert an diese Wohlfühlkalendersprüche (noch so ein „literarisches“ Genre), die einen geradezu anfallen, wenn man eine Thalia-Filiale betritt und ganz unschuldig – im Eingangsbereich mitunter zunächst vergeblich – nach einem Buch sucht.
Bruce Liu ist jedoch tatsächlich ein interessanter und durchaus vielseitiger Künstler. Er ist chinesischer Herkunft, gebürtiger Pariser und stammt, wie etwa Marc-André Hamelin, Angela Hewitt und Jan Lisiecki, aus Kanada. Ein Weltbürger eben. In der Kölner Philharmonie ist er in der laufenden Saison sowohl solistisch als auch mit Orchester in Köln zu erleben.
Nebenbei hat er 2021 den 18. Chopin-Wettbewerb gewonnen, und wie u.a. bei Maurizio Pollini 1960, Martha Argerich 1965, Krystian Zimerman 1975 und Rafał Blechacz 2005 resultiert aus einem solch bemerkenswerten Erfolg in Warschau schon mal ein Vertrag bei der Deutschen Grammophon.
Die Debüt-CD bot reineweg Musik von Chopin. Waves heißt nun Lius zweite Platte beim gelben Label, es ist sein erstes Studioalbum, und das hier ausgewählte und eingespielte Programm ist schön zusammengestellt, zu einhundert Prozent französisch und obendrein ein Querschnitt durch mehrere Epochen. Ein Streifzug durch drei Jahrhunderte, um genau zu sein, und das in 61 Minuten Spielzeit.
Ja, es ist ein Häppchenalbum, wie ich sie sonst eher verschmähe. Bemerkenswert ist hier jedoch die zu lobende Tatsache, dass mit sechs (meist kurzen) Werken Jean-Philippe Rameau der Fixpunkt dieser CD ist, der neben François Couperin sicher einer der bedeutendsten Komponisten der französischen Barockmusik war.
Und es ist keine Strafe, dass Rameaus Musik, auf dem modernen Konzertflügel gespielt, seit einigen Jahren immer mehr den Weg in unsere Konzertsäle findet. Tzimon Bartos arg manieriert-überinterpretierte Rameau-Platte A Basket of Wild Strawberries, 2006 bei Ondine erschienen, ist nicht durchweg mein Fall, Alexandre Tharauds Rameau (Harmonia Mundi) dafür umso mehr. Víkingur Ólafssons CD kenne ich leider noch nicht.
Von Klangbildern ist im Booklet die Rede, und die malt Liu schon bei Rameau. Die Gavotte et six doubles, eines der bekannteren Stücke und auf jeder guten Rameau-CD Ihres Vertrauens vorhanden, spielt Liu souverän und mit feinem Anschlag. Selbiges gilt für die kurzen Les sauvages, die einem ebenfalls erstaunlich geläufig sind, wenn man sich nur ein wenig mit Rameau befasst hat. Liu ist hier definitiv zuhause und macht sein Ding, und das auf beeindruckende Weise: Es steht immer der Komponist im Vordergrund, nicht der Pianist. Das ist Liu hoch anzurechnen. Es ist klar, schlüssig und transparent, was er da macht. Besonders schön perlend geraten auch Les cyclopes, und im abschließenden Stück La poule lachen und hacken die Hühner vor sich hin. Oder ist es wirklich nur ein Huhn?
Ravels Miroirs sind so toll gespielt, dass man sich gleich im Anschluss Gaspard de la nuit vom Künstler wünscht. Ich habe ein großes Faible für Ravel, insbesondere für seine evokative Klaviermusik, und höre mit großer Freude Bruce Liu in diesem Repertoire. Vielleicht ist es Ravels spannungsvoll dargebotenes Une barque sur l’océan, das den Albumtitel Waves inspirierte. Doch schon im ersten der fünf „Spiegelstücke“ spürt man die ziellosen, völlig natürlich-nervösen Bewegungen der herumfliegenden Nachtfalter.
Alborada del gracioso ist das bekannteste Stück aus den Miroirs, überhaupt eines der bekanntesten Werke Ravels. Es ist eine Liebeserklärung an den Impressionismus. Bruce Liu hat eine klare Deutung, und die hat, bei aller Ernsthaftigkeit seines Spiels, auch Humor. Das abschließende Werk, La vallée des cloches, erinnert an Debussys La cathédrale engloutie.
Großer Außenseiter im einstündigen Programm, das uns hier vorliegt, ist sicher Charles-Valentin Alkan (1813-1888), dessen Barcarolle definitiv in Tradition und Geist Chopin nahesteht. Hier erweist sich Liu als Meister des Ausdrucks und des zarten Anschlags. Selbiges gilt für Alkans Le festin d’Ésope, ein zehnminütiger, raffiniert komponierter, Variationenzyklus aus der Etüdensammlung quer durch alle Molltonarten, Douze études dans tous les tons mineurs. Die hier eingespielte e-Moll-Etüde schöpft das gesamte Spektrum des Klaviers aus.
Ein hörenswertes Album, in dem der junge Pianist eindrucksvoll der französischen Seele nachspürt.
Dr. Brian Cooper, 30. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Rising Stars 10: Kunal Lahiry, Pianist – Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau‘n
Frauenklang 2, Interview mit der Pianistin Jui-Lan Huang klassik-begeistert.de