CD-Rezension:
Alice Sara Ott spielt alle Nocturnes von John Field.
John Field (1782-1837) – Complete Nocturnes, 1-18
Alice Sara Ott, Klavier
Deutsche Grammophon, DG 486 6238
von Brian Cooper, Bonn
Viele verbinden sofort Frédéric Chopin mit dem Nocturne, halten ihn sogar für den Erfinder dieses oft so getragen wirkenden Charakterstücks, in dem binnen nur weniger Minuten durch Melodie und Begleitung eine Stimmung erzeugt wird, die nächtliche Stille mehr einfängt, würdigt, als es eine Polonaise je könnte.
Chopin hat das Nocturne – und natürlich auch die Polonaise – zu Vollendung und wahrer Blüte gebracht, aber ohne dessen Erfinder John Field hätte es das Nocturne vielleicht nicht – oder allenfalls anders – gegeben.
Sagen wir es so: Der erste, der ein Nocturne „Nocturne“ nannte, war der Ire John Field, der, vielleicht noch neben Charles Villiers Stanford, zu den bekanntesten „klassischen“ Komponisten des Landes zählen dürfte. (Musiker anderer Genres haben wir hingegen in Irland zuhauf, ebenso eine erstaunliche Anzahl Menschen, die mit der Schriftstellerei – oft bemerkenswert erfolgreich – ihr Geld verdienen.)
Meine einzige Begegnung mit einigen der Field’schen Nocturnes war bisher eine alte CD, auf der Daniel Adni ein paar dieser Stücke (sehr schön) spielt. Tatsächlich höre ich die 18 Nocturnes in Gänze aber erst auf dem vorliegenden Album. Und freue mich darüber. Kein einziges habe ich je im Konzertsaal gehört, nicht einmal in Fields Geburtsstadt Dublin, wo ich immerhin einige Jahre gelebt habe.
Alice Sara Ott ging es nur marginal anders: Sie lernte Fields Nocturnes während der Pandemie kennen und fühlte sofort, wie sie im Booklet schreibt, „etwas so Nostalgisches und Vertrautes (…) – als ob ich sie seit meiner Kindheit kannte“.
Das zeigt vielleicht einfach nur, wie sträflich manche Komponisten vernachlässigt werden. Gerade erleben wir immerhin eine kleine Renaissance von Komponistinnen: Amy Beach, Florence Price, Nadia und Lili Boulanger – letztere schrieb übrigens ein Nocturne für Geige und Klavier – und so viele andere, die oftmals Hörenswertes hinterlassen haben.
Von John Field gibt es immerhin sieben Klavierkonzerte. Vielleicht könnte mal jemand eines davon aufführen, statt des x-ten 4. Klavierkonzerts von Beethoven. Immerhin schrieb auch Robert Schumann, seinerseits ein Komponist von „Nachtstücken“, in seiner Neuen Zeitschrift für Musik bewundernd über Field.
Otts Phrasierung der Nocturnes ist durchaus reizvoll, stellenweise nobel. Es macht große Freude, ihrer Gestaltungskunst zu lauschen. So schön kann eine persönliche Repertoireerweiterung sein.
Die 18 Kleinode passen hier auf eine CD; die Spieldauer erreicht 76 Minuten statt der 90 Minuten von Míceál O’Rourke, der sich seit jeher so unermüdlich für Fields Musik einsetzt. (Fun fact: Über seinen Lehrer Marcel Ciampi ist O’Rourke Enkelschüler von Claude Debussy.) Unruhig wird es bei Ott jedoch niemals.
Das vierte Nocturne, in A-Dur, ähnelt mit seinen perlenden Arabesken schon verblüffend dem Stil des anderen, polnischen, Komponisten. Nr. 6 ist eine Berceuse, deren Ende an eine Spieluhr erinnert, zu der Kinder einschlafen. Nr. 12 wirkt dagegen geradezu sprunghaft und keck: Vielleicht denken nur die Eltern, dass ihre Kinder schlafen… (Und wie bloß werden die Glockenschläge am Ende erzeugt?) Das letzte Nocturne, Nr. 18, erinnerte zumindest mich stark an Mozart. Dessen Tonkunst ja auch keine Strafe ist.
Ein Wort zur Gestaltung des Booklets: Es mag an meinen allmählich älter werdenden Augen liegen, aber ich bevorzuge schon noch das sprichwörtliche schwarz auf weiß anstelle von heller Schrift auf schwarzem Grund. Das Lesen eines ansonsten wirklich interessanten Texts der Pianistin über ein interessantes Leben (Schüler von Clementi, Lehrer von Glinka, dem Alkohol zugetan, fast 30 Jahre in Russland gelebt, u.v.m.) gerät so arg mühselig.
Als ich vor vielen Jahren meinen Geigenlehrer Greg Ellis, Primarius des Vanbrugh Quartet, in Cork besuchte (die zwei „Geigenstunden“ bei ihm dauerten gern mal einen halben Tag) und ihm völlig hingerissen von den drei Streichquartetten des Juan Crisóstomo de Arriaga berichtete, die ich kurz zuvor in Bilbao „entdeckt“ hatte, erwiderte er lakonisch: „Give me Mozart any day.“
Natürlich wird es Menschen geben, die nichts auf ihren Chopin kommen lassen und sich mit vermeintlich minderen Komponisten nicht abgeben mögen. Vielleicht sollten gerade sie in dieses Album reinhören und die Anzahl der täglichen Nocturnes einfach ein wenig dosieren. Es lohnt sich, auch wenn 18 am Stück vielleicht eine Überdosis sind. Aber sind sie das nicht auch bei Chopin?
Dr. Brian Cooper, 22. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, Yutaka Sado, Alice Sara Ott, Musikverein Wien, 8. März 2019
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