CD-Rezension:
Yuja Wang
The Vienna Recital
Werke von Albéniz, Scriabin, Kapustin, Beethoven, Ligeti, Glass, Márquez, Brahms und Gluck
Deutsche Grammophon, DG 486 4567
von Brian Cooper, Bonn
„Liegt da wie eine unausgeschlafene Studentin im morgendlichen Seminar. Körperlich präsent…“, kommentiert mein Freund Martin, Professor, Klavierliebhaber und Amateurpianist, trocken das Coverbild, als er das Rezensionsexemplar auf meinem Player entdeckt. Yuja Wang mag zwar förmlich auf dem Flügel liegen, doch unausgeschlafen wirkt sie mitnichten, denn da sind ja noch die hellwachen Augen.
Warum macht man heute noch solche Fotos wie jene der geigenden „Frolleinwunder“ vor 20 Jahren, die oft liegend auf dem Cover zu sehen waren? Vielleicht, um genau jene heterosexuellen Männer anzusprechen, die Worte wie „Frolleinwunder“ in den Mund nahmen… Hört man das eklektisch anmutende Programm von Albéniz bis Kapustin, von Beethoven über Scriabin bis Ligeti, so kann man nicht anders, als ein hellwaches, gestalterisches Spiel zu entdecken, stellenweise gar zu bewundern. Technisch ist alles brillant, interpretatorisch mindestens interessant, und wer am 26. April 2022 im Wiener Konzerthaus zugegen war, konnte viel ausgefallenes Repertoire hören, unter den Händen einer großen Pianistin unserer Tage.
Isaac Albéniz’ Málaga (aus Iberia) eröffnet die CD. Natürlich kommt man nicht umhin, an die große Alicia de Larrocha zu denken, die dieses so hörenswerte spanische Repertoire einer breiteren Öffentlichkeit bekannter machte. Wang beginnt ihr Rezital mit einer anderen Spielweise, nämlich einer mysteriös bis verspielten, die durchaus auch ihre Berechtigung hat. In Lavapiés, hier der achte Track, kommt dies besonders zum Tragen und trifft die spanische Atmosphäre dieses so reizvollen Madrider Stadtteils ganz vorzüglich.
Auch Alexander Scriabins Sonaten werden leider allzu selten gespielt. Igor Schukows zwei Gesamtaufnahmen – Ersteinspielung bei Melodija, späte Einspielung bei Telos – bleiben unübertroffen. Und dennoch empfinde ich die Interpretation der 3. Sonate in fis-Moll op. 23 als weitere bereichernde Lesart, denn Wang trifft insbesondere im Andante den mystischen Kern dieser so einzigartig-kompromisslosen Klaviermusik. Das finale Presto con fuoco nimmt sie wörtlich, spielt es mit einer Mischung aus technischer Brillanz und interpretatorischer Reife. Beeindruckend.
Wer Nikolai Kapustin noch nicht kennt, hat hier Gelegenheit, ein völlig anderes Repertoire zu erleben, das einerseits klassische Klaviermusik, andererseits eindeutig im Jazz verhaftet ist. Wang ist in zweien der 24 Jazz Preludes op. 53 (Nr. 11 und 10) in ihrem Element. Es macht Spaß, diese Musik zu hören.
Neun verschiedene Komponisten auf einer CD, das mutet einigermaßen eklektisch an. Doch ist dieses Album vor allem deshalb so reizvoll, da es hauptsächlich eher unbekanntes Repertoire enthält, jenseits ausgetretener Pfade. Selbst Beethovens 18. Sonate gehört nicht unbedingt zu den am häufigsten gespielten der 32 Sonaten des „Neuen Testaments“ (Hans von Bülow) der Klavierliteratur. Es ist als zentrales Werk der CD (Track 9 bis 12) ausgelegt, auch wenn der Scriabin mit etwa 20 Minuten das längste Werk ist.
Wollte man lediglich mit einem oberflächlichen Blick auf die hier enthaltenen Werke Kritik üben, könnte man die Beethoven-Sonate als bierernsten Fremdkörper auf einem ansonsten eher verspielt-spaßigen Wiener-Mélange-Album betrachten. Doch Yuja Wangs Lesart liefert tatsächlich eine Seite, die man mit Beethoven eher nicht verbinden würde: Schon der Kopfsatz gerät so humorvoll, dass man staunt. Die drei kürzeren Sätze stehen dem Kopfsatz diesbezüglich in nichts nach. Das Menuett ist hier ein wahres Kleinod, und das Finale macht dem „Jagd“-Beinamen der Sonate alle Ehre. Ich möchte nicht von „entstaubt“ sprechen, aber erfrischend ist dieser Beethoven allemal.
Spannend ist auch die Musik von György Ligeti, mit dem ich normalerweise meine liebe Mühe habe. Die beiden Etüden Nr. 6 und 13 (Automne à Varsovie und L’escalier du diable) entpuppen sich als wunderbar atmosphärische Werke, die man immer wieder hören will. Der „Herbst in Warschau“ ist durchaus geistesverwandt mit Scriabin, und die „Teufelstreppe“ ist schlicht ein – entschuldigen Sie den Ausdruck – geiles Stück. Ich werde mich wieder mit Ligeti befassen.
Der Zugabenteil enthält Reizvolles von Philip Glass (Etude no. 6), Arturo Márquez (Danzón, in einem Arrangement von Leticia Gómez-Tagle) und Christoph Willibald Gluck, dessen berühmte „Melodie“ hier von Giovanni Sgambatti arrangiert wurde. Das cis-Moll-Intermezzo op. 117,3 von Johannes Brahms ist der längste Track eines insgesamt empfehlenswerten Albums, wobei ich gerade bei Brahms Hélène Grimaud, Lars Vogt und vor allem Julius Katchen vorzöge.
Dr. Brian Cooper, 8. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Rezension: Yuja Wang Rachmaninoff klassik-begeistert.de, 9. Dezember 2023
Gautier Capuçon, Yuja Wang, Elbphilharmonie Hamburg, 8. Januar 2020
Hello sir,
„Frolleinwunder“ – als heterosexuellen Mann bezeichne ich mich schon. Mit diesem Wort kann allerdings nicht nur ich nichts anfangen, auch google streikt. Einen gleichnamigen Film aus den 1990er-Jahren spuckt es aus, alle weiteren Vorschläge sind unbefriedigend.
Sollte die Alternative, die google vorschlägt, gemeint sein – dann: „Aha“-Moment! „Fräuleinwunder“, mit den Zusätzen: „…junge, attraktive, moderne, selbstbewusste und begehrenswerte Frauen der deutschen Nachkriegszeit“. Das sollte wohl hinhauen.
„Nachkriegszeit“ ist halt ein dehnbarerer Zeitraum, der im Grunde noch immer zutrifft. Auch, wenn damit wohl eher direkt die Jahrzehnte nach 1945 gemeint sein dürften. Heute kursieren eher Begriffe wie „Binnen-I“ durch die Köpfe der „Gen Z“, die mit der „Gen X“ und den „Babyboomern“ nur mehr wenig am Hut hat. Tut aber nichts zur Sache, ich hole weit aus und verliere mich. Danke für den kurzen Ausreißer, der meiner Phantasie durch diese CD-Rezension gestattet wurde.
Liebe Grüße
Jürgen Pathy
Lieber Jürgen,
vielen Dank für die Ausführungen! Ich googelte das Wort auch, bevor ich’s (absichtlich falsch) schrieb, und mir war tatsächlich der ursprüngliche Nachkriegskontext nicht bekannt.
Auch weiß ich nicht mehr, wo und von wem ich ca. Ende der 90er im Zusammenhang mit den vielen jungen, hervorragenden Geigerinnen den Begriff – ironisch verwendet und als „Frolleinwunder“ verfremdet – hörte, und das gleich mehrfach.
Doch prompt hatte ich – nicht zuletzt wegen des inzwischen gemeinhin als abwertend anerkannten Diminutivs – den „alten, feisten Mann“ vorm geistigen Auge, der auf einer Hochzeitsfeier schon mal zu viel pichelt und die attraktive Kellnerin anmacht.
Das krasseste Beispiel eines CD-Covers, wo eifriges Marketing der jungen Geigerin die Worte „Pack mich aus, Daddy“ in den Mund zu legen scheint, ist das Bach-Album von Lara St. John, das weiland ob der Barbusigkeit für Kontroversen sorgte.
Im Wikipedia-Artikel steht übrigens ein interessanter Satz zum Begriff „Fräuleinwunder“:
„Im Sport ist vor allem im Tennis (und spezifisch im Bezug [sic] auf die Nachfolge der langen rekordträchtigen Karriere von Steffi Graf in den 1980er und 90er Jahren) von Fräuleinwundern die Rede, darunter Angelique Kerber, Sabine Lisicki und Annika Beck.“
Das kann man eins zu eins auf die Geigerinnen übertragen, nimmt man Anne-Sophie Mutter (die übrigens tennisaffin ist) als Steffi Graf’sches Vorbild und ersetzt die jüngeren Athletinnen durch (z.B.) Janine Jansen, Baiba Skride, Hilary Hahn und andere.
Herzliche Grüße,
Brian