Blomstedt (c)Astrid Ackermann
In der leider nur schütter besuchten Kölner Philharmonie erklingen eine bekannte und eine eher unbekannte Sinfonie. Das Publikum ist begeistert.
Kölner Philharmonie, 24. Mai 2023
Franz Berwald (1796-1868) – Sinfonie Nr. 4 Es-Dur („Sinfonie naïve“)
Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) – Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 („Schottische“)
Chamber Orchestra of Europe
Herbert Blomstedt, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Herbert Blomstedt, das Phänomen, dirigiert dieser Tage wieder an Rhein und Ruhr, diesmal das Chamber Orchestra of Europe (COE), und er hat auch noch einen seiner „Herzenskomponisten“, Franz Berwald, im Gepäck, der ähnlich wie sein Namensvetter Kafka neben der künstlerischen Tätigkeit einem Brotberuf nachgehen musste. Genauer: mehreren Brotberufen. Denn er war unter anderem Orthopäde und danach Leiter einer Sägemühle. Wenn das keine interessante Kombination ist…
Als Komponist ist er immerhin seinen schwedischen Landsleuten so wichtig, dass sie einen Stockholmer Konzertsaal nach ihm benannt haben, die Berwaldhalle.
Berwalds vier Sinfonien sind unbedingt hörenswert; vor allem, wenn sie von Herbert Blomstedt dirigiert werden. Überhaupt ist es angenehm, Repertoire abseits der ausgetretenen Pfade entdecken zu dürfen – gerade für Menschen, die häufig ins Konzert gehen. Wie sagte neulich eine Konzertfreundin, Loriot paraphrasierend: „Ich habe wirklich nichts gegen Antonín Dvořák, ganz im Gegenteil, aber wenn ich noch eine Neunte von ihm höre, dann beiße ich in die Auslegeware!“
Der Kopfsatz von Berwalds „naiver“ Sinfonie, seiner vierten, ist in Ton- und Taktart (Es-Dur, Dreiviertel) mit Beethovens Eroica identisch. Ist es vermessen, diesen Vergleich anzustellen? Nun, er drängt sich einem halt kurz auf – zumal, wenn man in jüngerer Zeit mehrere Eroicas (Eroicae? Eroici?) gehört hat, à propos Auslegeware.
Die Sinfonie von 1845 mag nicht ganz so bedeutend sein wie Beethovens dritte, aber sie kommt unter Blomstedt ähnlich frisch daher, mit einer Prise Mendelssohn, einer Prise Schubert und einem Hauch Berlioz und sogar Bruckner (relativ groß besetztes Blech), Letzterer natürlich ein weiterer „Herzenskomponist“ Blomstedts. Kurzum, es macht große Freude, sie zu hören! Vielleicht sollte man aber auch nicht ständig die bekannteren Komponisten zum Vergleich herbeiziehen, sondern den unbekannteren eine gewisse Eigenständigkeit zugestehen. Zumal auch Berwald, wie so viele andere Komponisten, das Schicksal ereilte, lange von der Öffentlichkeit unverstanden zu sein und mitunter hässliche Presseattacken ertragen zu müssen.
Herbert Blomstedt ist jedenfalls hoch anzurechnen, dass er sich in Aufnahmen wie Liveauftritten immer wieder der skandinavischen Musik annimmt – etwa jener von Berwalds Landsmann Wilhelm Stenhammar und des Dänen Carl Nielsen – und sie auf diese Weise immer wieder seinem Publikum nahebringt. Übrigens hat Blomstedt Berwalds Vierte fast auf den Tag genau vor 32 Jahren mit dem San Francisco Symphony aufgenommen, am 25. Mai 1991, wie ein Blick ins CD-Booklet verrät.
Die Kölner Philharmonie war erstaunlich schlecht besucht, irgendwo zwischen halbvoll und zwei-Drittel-voll. Es wird doch nicht etwa, womöglich wegen Berwald, Artikel 6 des Rheinischen Grundgesetzes zur Anwendung gekommen sein? Kenne mr nit, bruche mr nit, fott domet! Und so kamen leider nur verhältnismäßig wenige Menschen in den Genuss, den herzerweichenden langsamen D-Dur-Satz zu erleben, Liebreiz pur, mit seinen wunderbaren Holzeinwürfen und dichtem Streicherklang; das heiter-beschwingte B-Dur-Scherzo; und das wunderbar überdrehte Finale, natürlich hochvirtuos und mitreißend gespielt, wie man’s vom COE gewohnt ist, insbesondere die quirligen Dialoge zwischen den vibratoarm spielenden Streichern und den verschiedenen Bläsergruppen.
Herbert Blomstedt, der von der Konzertmeisterin, Lorenza Borrani, aufs Podium geleitet wurde, wirkte am Pult frisch und jugendlich, mit agiler Gestik. Und er wurde schon zur Pause mit stehenden Ovationen bedacht, und das nach einer Berwald-Sinfonie!
Nach der Pause folgte eine weitaus bekanntere Sinfonie, die ich persönlich nicht oft genug hören kann: Mendelssohns Dritte, die Schottische. Die werde ich immer mit Claudio Abbado verbinden, insbesondere mit seinem Pariser Auftritt vor ziemlich genau zehn Jahren in der Salle Pleyel sowie mit den beiden LSO-Aufnahmen bei Decca und der DGG. Jüngst hörte ich sie in Frankfurt, von Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern exquisit musiziert.
Auch Herbert Blomstedt ist natürlich in diesem Standardrepertoire mehr als zuhause, und es klingt, wie in jeder guten Aufführung, überhaupt nicht nach Standardrepertoire. Das COE, das nunmehr seit über 40 Jahren existiert, unter Yannick Nézet-Séguin alle fünf Mendelssohn-Sinfonien eingespielt hat und extrem reisefreudig ist, spielte luftig und präsent. Unter Blomstedts Leitung gingen die Sätze attacca ineinander über. Die an diesem Abend sehr spärlich vertretenen Huster von Köln vernachlässigten geradezu ihre Kernkompetenz, so fesselnd war es.
Bereits der Kopfsatz wurde so dargeboten, wie ich es selten gehört habe: Im Allegro-Teil, nach der langsamen Einleitung, lässt Blomstedt Romain Guyots tiefer spielende Klarinette über den höher spielenden Streichern solistisch agieren, was einen unheimlich spannenden Effekt hat. Überhaupt war das Holz des COE am gesamten Abend hervorragend aufgelegt, im Scherzo geradezu göttlich…
Das Tempo des dritten Satzes war so ziemlich das „andantigste“ Adagio, das man sich vorstellen kann: zügig, ja, aber immer leicht und duftig, und das Solo der Cellogruppe, von den Hörnern um Jasper de Waal untermalt, war anrührend. Und auch besagte Hörner hatten in der A-Dur-Hymne des letzten Satzes ihren grandiosen Moment. Erstaunlich zügig wurde auch das gespielt, aber dennoch vergaß man jegliches Zeitgefühl um sich herum. Wie die Musik im letzten Satz atmete und lebte! Das war schlichtweg ein toller Mendelssohn. Meine Begleitung, spontan hinzugekommen, sprach von einer Sternstunde.
Immer, wenn das COE auf der Bühne zu sehen ist, habe ich meine fünf Minuten. Meine fünf Minuten John Chimes. Diesem Paukisten bei der Arbeit zuzuschauen, ist eine Wonne. So hochprofessionell und konzentriert, selbstverständlich, aber zugleich so in der Musik, mit einer überaus angenehmen Ausstrahlung, dass ich mich immer ein paar Minuten auf ihn konzentriere und denke, trotz des ganzen Reisestresses im Leben eines Orchestermusikers, und trotz der vielen Dinge, die nicht immer so schön sind, wie absolut fantastisch es sein muss, unter einem solchen Dirigenten solche Musik spielen zu dürfen.
Und da sich Jochen Malmsheimer öfter den Spaß erlaubt, Namen zu finden, die einen ganzen Satz darstellen („Horst Tappert“, „Steffen Seibert“), sei hier noch „John Chimes“ vorgeschlagen…
Wer Zeit hat und das Kölner Konzert verpasst hat, sollte unbedingt am Folgeabend (25. Mai) nach Dortmund fahren, wo im Konzerthaus dasselbe Programm gegeben wird. Es gibt noch eine Menge Karten.
Dr. Brian Cooper, 25. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Philharmoniker, Herbert Blomstedt, Franz Berwald, Antonín Dvořák, Wiener Konzerthaus