Wiener Staatsoper, 19. Mai 2021
Charles Gounod, Faust, Premiere vor Publikum
Foto: Kammersänger Juan Diego Flórez (Faust) und Nicole Car (Marguerite) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
von Dr. Sieglinde Pfabigan
Was Frank Castorf beim Bayreuther „Ring“ nur in Ansätzen gelingen konnte, nämlich: alle Charaktere der Wagnerschen Tetralogie in den Dreck zu ziehen, das wurde ihm in der Geschichte von Faust und Mephisto schon dadurch erleichtert, dass da wirklich der Teufel eine Hauptrolle spielt. Man merkt es in jeder einzelnen Szene – es darf keine positiven oder gar edlen Figuren in seinem verderbten Paris geben. Die einzige Person, bei der sich das kaum machen lässt, ist der Titelheld (dem man dieses Privileg hier eigentlich aberkennen müsste).
Und da Charles Gounod seinen Faust noch dazu als Tenor auftreten lässt, macht Castorf ihn im Vorspiel einfach zu einem alten zittrigen Trottel und nach seiner Verjüngung allein schon optisch zu einer unansehnlichen Figur, in schwarzer Hose nebst schwarzem Leibchen, so unauffällig wie möglich, ein junger Mann, mit dem Méphistophélès machen kann, was er will, sodass nur noch seine hohe Stimmlage und deren sichere Beherrschung sein Dasein rechtfertigen. Für alles andere ist er dem Regisseur wohl zu blöd. Mir hat der vortreffliche Sänger Juan Diego Flórez richtig leid getan, dass er nichts weiter als ein Tenor sein durfte.
Castorf kann sehr viel. Von den diversen szenischen und kostümlichen Einfällen (Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki) angefangen, bis zur den vielen filmischen Ergänzungen der Regie und der trefflichen Durchführung aller Aktionen jedes einzelnen Sängerdarstellers incl. Chor und filmischer Kriegsszenen. Was er will, kann er auch umsetzen. Jedoch: das Resultat entspricht weder der Gounod’schen Vorlage in musikalischer Hinsicht und gedanklich schon gar nicht dem großen dramatischen Lebenswerk Goethes, das der überragende Dichter und eine der größten Künstlerpersönlichkeiten aller Zeiten nach dem „Urfaust“ aus den Jahren 1773-1775 erst rund 60 Jahre später mit dem „Zweiten Teil“ in seinem Todesjahr (1832) vollendet hat.
Fausts letzte Worte
„… Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.“
werden nach Mater gloriosas Aufforderung an die Büßerin, ehem. Gretchen, noch überhöht:
„Komm! Hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.“
und zuletzt vom Chorus mysticus bekräftigt:
„Alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis:
Das Unbeschreibliche,
Hier ist es gethan:
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.“
Das schreit geradezu nach Vertonung. Und Gounod, der insgesamt daraus eine hübsche romantische Oper gemacht hat, uraufgeführt in Paris 1859 (also nur 27 Jahre nach Goethes Tod), lässt dieses Finale in klangvollem Französisch Goethe-würdig enden: „Christ est ressuscité!“
Dieses Finale wird vom Wiener philharmonischen Staatsopernorchester unter der kundigen Leitung von Bertrand de Billy trefflich dargeboten. Es wird auch gezeigt, wohin es Marguerite zieht. Aber: Es wird ihr von Herrn Castorf verboten, dort zu bleiben: Sie kehrt zurück in ihr Lokal, setzt sich rauchend an einen Tisch und erwartet wieder männliche Gäste… Castorf hört das offenbar aus der Musik heraus.
Anders das Publikum, das die Sänger und den Dirigenten samt Staatsopernorchester bejubelte: An einen ähnlich gewaltigen Buh-Orkan, wie er den Regisseur aus dem gesamten Haus empfing, kann ich mich nicht erinnern!
Diese Reaktion bezieht sich klarerweise nicht nur auf das Finale. Etwas wahnsinnig Störendes dominierte in der gesamten, nun „live“ gezeigten Produktion. Während man auf dem häuslichen Fernsehgerät, PC oder Radio die Lautstärke selbst nach Belieben regeln konnte, war man im Opernhaus einer unerträglichen Dauerlautstärke seitens des Orchesters und der Sänger ausgesetzt. Ob das der Dirigent nur deshalb geschehen ließ, weil er dem Publikum beweisen wollte, dass auch die Musik, nicht nur die Regie-Ideen, von Bedeutung seien? Man weiß ja: er kann auch anders.
Natürlich passt ein Fortissimo-Gesang sehr gut zum Mephisto. Zum vortrefflichen Wien-Debutanten Adam Palka schon deshalb, weil er derart differenziert und wortdeutlich sang und prächtigst alle bösen Gedanken und Taten dieser Figur sichtbar machte. Auch dem ausgezeichneten Bariton Étienne Dupuis nahm man Valentins Vorsorge und dann das Leid um die geschändete Schwester im wohlklingendem forte-Gesang ab. Martin Häßlers Wagner, Michèle Losiers Siébel und Monika Bohinec’ Marthe durften mit ihren kräftigen Stimmen zwielichtige Charaktere sein. Aber Marguerite? Die bildhübsche Nicole Car konnte alles, was der Regisseur verlangte, singen und spielen. Im heimischen Radio oder Fernsehen klang auch ihr leuchtender Sopran schön (wie schon zuvor als Tatjana in „Eugen Onegin“), aber wenn sie, wie im Finale das gesamte Ensemble samt Orchester im fff zu übersingen hatte, da begann man schon um ihre Stimme zu fürchten.
Dr. Sieglinde Pfabigan, 21. Mai 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weitere Details zu dieser Staatsopernproduktion lesen Sie bitte im nächsten „Merker“-Heft. Sieglinde Pfabigan ist Herausgeberin von „Der neue Merker“.
Frau Dr. Pfabigan spricht mir aus der Seele. Es besteht unter den RegisseurInnen die Tendenz der Säkularisierung. So zu beobachten bei der designierten Direktorin der Wiener Volksoper Lotte de Beer bei ihrem „Mosè in Egitto“ und bei Alexandra Liedtkes „Samson et Dalila“. Wir hatten im Jahr 1961 noch als Wahlthema bei der schriftlichen Matura: „Das Religiöse in Goethes Faust“.
Lothar Schweitzer