© Todd Rosenberg Photography/Chicago Symphony Orchestra
Chicago Symphony Orchestra
Riccardo Muti, Dirigent
Philip Glass: The Triumph Of The Octagon
Felix Mendelssohn Bartholdy: Sinfonie Nr.4 A-Dur op. 90 „Italienische“
Richard Strauss: Aus Italien. Sinfonische Fantasie für großes Orchester op.16
Frankfurt, Alte Oper, 19. Januar 2024
von Kirsten Liese
Es ist eine große Freude, dass das Chicago Symphony Orchestra (CSO) auf seiner Europa-Tournee in Frankfurt gleich mit zwei Konzerten Station macht. Schon 2020, als ich es innerhalb einer Europa-Tournee unter Riccardo Muti mit Prokofjews dritter Sinfonie und Auszügen aus dessen Ballettmusik Romeo und Julia in Köln erleben durfte, ist mir das Orchester mit seinen packenden Interpretationen so stark ans Herz gewachsen, dass ich durchaus nachvollziehen kann, dass es ein Musiker wie der Posaunist Charles Vernon selbstbewusst noch über die Wiener Philharmoniker stellen kann.
Vernon spielt noch mit 75 Jahren beim CSO (in amerikanischen Orchestern gibt es kein Eintrittsalter für den Ruhestand, hier spielt jeder, solange er die Leistungen erbringen kann). Und er war für mich am Vormittag dieses Konzerts ein ganz besonderer Gesprächspartner, weil er unter Muti schon in den 1980er Jahren im Philadelphia Orchestra spielte. Weil das CSO für ihn damals schon das beste überhaupt war, wechselte er, als sich die Gelegenheit ergab, nach Chicago, und das sehr schweren Herzens, da er in Muti schon damals den besten Dirigenten fand und Muti ihn nicht gehen lassen wollte.
Umso größer war freilich die Freude, als Vernon seine Orchesterkollegen beim Chicago Symphony Jahrzehnte später davon überzeugen konnte, dass es nach Sir Georg Solti und Daniel Barenboim keinen besseren Nachfolger geben könnte als Muti. Und so kamen dann aus seiner Sicht beide zusammen: das beste Orchester und der beste Dirigent.
Und das, was aus seiner Sicht das CSO in so besonderer Weise auszeichnet – die ganz besondere Homogenität im Blech, insbesondere von Posaunen und Tuba, die so ungemein gesanglich musizieren – lassen sich an diesem zweiten Abend einer musikalischen Italienreise deutlich vernehmen, insbesondere in Strauss’ großer Orchesterfantasie Aus Italien.
Aber der Reihe nach.
Den Auftakt bildete das zeitgenössische, kleiner besetzte Orchesterstück The Triumph Of The Octagon für Streicher, Harfe und Holzbläser von Philip Glass, 2023 in Chicago uraufgeführt. Der Meister der Minimal Music ließ sich dazu von dem achteckigen Castel del Monte in Apulien inspirieren, eine rätselhafte Burg aus dem 13. Jahrhundert nahe der süditalienischen Stadt Bari, die Muti schon als Kind faszinierte.
Zu erleben ist ein fein gewebter Klangteppich in schillernden Farben mit wenig Bewegung in den Harmonien, der mit großer Sinnlichkeit seinen Reiz entfaltet. Selten spricht ein zeitgenössisches Auftragswerk derart an. Außerdem referiert das Tongemälde analog zu dem prachtvollen Bau auf die Zahl Acht, die nach der christlichen Lehre für Vollkommenheit steht. Das ist eine tolle Idee, aber das Wissen darum nicht unabdingbar, um sich an diesem Abend von der rauschhaften Musik mitreißen zu lassen.
Mit Mendelssohns vierter Sinfonie, der „Italienischen“, entführen Dirigent und Orchester dann in südlichere, sonnigere Regionen Italiens, bestimmt von pulsierender Lebensfreude. Eine jugendliche Frische versprüht da schon der erste Satz mit seinem schwungvollen Elan inmitten von spannungsvollen Rhythmen, eleganten Figuren und großräumigen Intervallen.
Aber dann kommt es unerwartet zu einem Schrecken: Plötzlich wendet sich Muti zur Seite mit leichtem Blick über die linke Schulter, dirigiert kaum noch, steht so angewurzelt wie eine Wachsfigur und das Orchester spielt alleine weiter. Eine spürbare Irritation zieht durch den Saal. Hoffentlich ist ihm nicht schlecht geworden, denke ich im ersten Moment, aber dann kommt es mir so vor, als gelte diese demonstrative Haltung Störenfrieden in der ersten Reihe. Und tatsächlich, so war es.
Wie meine Recherche ergab, sollen Zuschauer in der ersten Reihe direkt hinter dem Dirigentenpult rumgeblödelt haben. Ob als pure Provokation oder Langeweile, konnte ich leider nicht ermitteln. Jedenfalls hat Muti sehr elegant den Störenfrieden Einhalt gegeben.
Ein solch unkundiges Publikum, das eifrig zwischen allen Sätzen applaudierte und offenbar auch nicht wusste, dass Beifall zwischen den Sätzen nicht üblich ist, hatte ich an diesem Ort nicht erwartet. Die guten Manieren im Konzertsaal lassen offenbar allerorten nach.
Einen ganz großen Auftritt hatten die Bläsersolisten dann im dritten Satz, dem Con moto moderato. Da staunte ich über den exzellenten Hornisten Mark Almond, der sein Solo derart leise anstimmte, wie ich es auf diesem Instrument kaum für möglich gehalten hätte. Und das im präzisen Zusammenspiel mit der trillernden Flöte.
Äußerst flott schließlich der finale Saltarello. Ich hatte ihn langsamer erwartet, nachdem mich Muti zuvor gefragt hatte, warum so viele Dirigenten diesen Satz oft überhetzen. Ich persönlich finde langsamere Tempi sowieso tendenziell besser, weil das Ohr dann den klanglichen Reichtum an Details viel besser erfassen kann. Aber am Ende geht nichts über Spontaneität. Mitunter tut es den Musikern gut, wenn am Abend etwas anders ist als in den Proben. Muti fand genau das richtige Maß, so tönte die Musik luftig und leicht.
Richard Strauss’ Fantasie Aus Italien findet sich seltsamerweise weit weniger auf Konzertprogrammen als seine übrigen Tondichtungen. Warum erschließt sich mir nach dieser phänomenalen Wiedergabe nicht. Im Gegenteil: Hier lässt sich der Komponist mit seiner ganz unverkennbaren Handschrift entdecken. Und erweist sich damit als ein höchst dankbares Stück für ein subtil dynamisierendes Orchester, das alle Facetten farbenreich auslotet: Mal ging es da schwelgerisch zu wie in leidenschaftlicher Filmmusik zum größten Liebesfilm aller Zeiten, mal heroisch wie im Heldenleben oder silbrig filigran wie in den intimsten Momenten des Rosenkavaliers.
Dabei war es schön zu erleben, wie Muti mit Eleganz und gewohnt sparsamer Zeichengebung die großen Emotionen evozierte, stets in direktem Blickkontakt und auf einem Atem mit den Musikern, von denen sich jeder einzelne in Topform empfahl.
Zumindest als Zugabe durfte ein Werk eines italienischen Komponisten nicht fehlen. Natürlich sollte es eine Ouvertüre von Verdi sein, aber einmal keine der bekannteren Opern, sondern der selten gespielten Giovanna D’Arco.
Die ist nicht so prall an Ohrwürmern wie Verdis populärere Opern Nabucco oder La forza del destino, fördert dafür aber im zentralen Mittelteil ein zauberhaftes Bläsertrio zutage, das die Drei wunderbar gesanglich spielten wie es sich schöner nicht denken ließe. Das können auch die Wiener Philharmoniker nicht übertreffen.
Kirsten Liese, 22. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Farewell Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Dirigent Frankfurt, Alte Oper, 18. Januar 2024
CHICAGO SYMPHONY ORCHESTRA Amerika zu Gast Frankfurt, Alte Oper, 18. Januar 2024
FAREWELL TOURNEE Riccardo Muti, Chicago Symphonie Orchestra Philharmonie Essen, 14. Januar 2024