Christoph von Dohnányi in der Elphi: "Das schönste Konzerterlebnis meines Lebens"

Christoph von Dohnányi, NDR Elbphilharmonie Orchester,  Elbphilharmonie, 17. Januar 2020

Foto: © Brescia e Amisano
Elbphilharmonie, 17. Januar 2020
NDR Elbphilharmonie Orchester

Henrik Wiese
Flöte
Kalev Kuljus Oboe
Dirigent Christoph von Dohnányi
Charles Ives

The Unanswered Question / Two Contemplations Nr. 1
György Ligeti
Konzert für Flöte, Oboe und Orchester
Zugabe des Solisten:
Wilhelm Friedemann Bach
2. Satz Cantabile aus Duett Nr. 2 G-Dur Fk 55 für zwei Flöten
Piotr I. Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 »Pathétique«

von Harald N. Stazol

Das Schlusswort vorweg: Diese „Pathétique“, dieser Christoph von Dohnányi, dem das Hamburger Publikum schon, da er die Bühne betritt, in bemerkenswerter Ehrerbietung mit respektvollem Applause begegnet – und den ich hiermit zum bedeutendsten deutschen Dirigenten erkläre – dieser Freitagabend in der Elbphilharmonie, dürfte das schönste Konzerterlebnis meines Lebens gewesen sein – und es gab derer vordem einige.

 

Es ist zu erwarten, dass der Grandseigneur, gerade hat er die Ehrenmedaille der Stadt erhalten, ein Programm der Lebenstiefe und -weisheit zusammenstellen wird, und so ist das vorangestellte Werk des Amerikaners Charles Ives, „The unanswered question“ schon eine Apothéose an die Sehnsucht. Leis-leise lässt der Maestro das Flirren der Streicher, den einsamen Ruf der Trompete, das ihm abgewandte, eigens dirigierte Bläserensemble oben links auf der Bühne zu einem traurig-schönen „Gefühl“, wie es in der Romantik wohl geheißen hätte, aufblühen – der erste, frühe Tod des Abends, denn recht eigentlich geht es hier heute Abend im so prachtvollen Bau, treppauf, treppab, um Abschied.

Dann, Györgi Ligeti, geben wir es offen zu, nicht jedermanns Sache. Ein Konzert ohne Konzert, ohne Aufbau, getragen von zwei Meistern der Flöte, deren Namen im Programmheft leider nicht dokumentiert sind. Die Flötisten wechseln während dieses „Doppelkonzertes“ (das ja gar keines ist!) virtuos Lagen und Instrument, und in die späte Moderne dieser Klänge wird nun ebenfalls Sehnsucht und die Einsamkeit des Menschen der Gegenwart, das Hingeworfensein ins Dasein thematisiert, doch dies nur als apercu, es mag ja jedem vorbehalten sein, was er hört. Doch dann, die Zugabe: Der Satz eines Flötenkonzertes von Wilhelm Friedemann Bach – und plötzlich ist Ligeti in seine Schranken verwiesen.

Nun also, Große Pause. Dort steht er, der andere, Klaus von Dohnányi, stattlich, mit intelligenten Augen, auch er ein großer Sohn der Stadt, und mit einem leichten Kopfnicken erweist man dieser staunenswerten, deutschen, hanseatischen Dynastie seine Reverenz – allein, nun legt sich schon über das erstaunlich elegante Publikum eine Art Vorfreude, nun denn gilt es das Hauptwerk des Abends, Peter Iljitsch Tschaikowskys „Pathétique“ zu erwarten, und als ich mich anschicke, meinem Platze zuzustreben, sehe ich an der in der Elphi eben so niedrigen Brüstung gefährlich nahe am Abgrund zwei typische Sprößlinge Hamburgs, der Art „Bucerius Law School“, nun austauschbar, ja, kaum auseinanderzuhalten. Und kann mir die Bemerkung, „Vorsicht, meine Herren! Nicht hinab! Nicht an die Verflossene gedacht! Der vierte Satz der Symphonie…!“, nicht verkneifen, was jene mit einem völlig sinnlos-ängstlichen „aber er hat sie doch selbst noch einmal dirigiert!“ quittieren, bevor man sich entschuldigend ebenfalls auf seine Plätze zurückzieht.

Der 3. Satz der Pathétique. Nichts Mitreißenderes ward je geschrieben. Abgesehen von den Rolling Stones. Jedenfalls, bis dahin in der Musikgeschichte – Phillip Glass und sein `Itaipu`, und auch sein Violinkonzert ausgenommen, vor allem, wenn Gideon Kremer es umsetzt – egal:

Christoph von Dohnányi dirigiert. Er ist älter als jeder im Saal. Von Toscanini sagte man, selbst, wenn er unbemerkt in den Saal kam, veränderte sich der Klang des Orchesters. Von Strauss hiess es ähnliches.

Nun also, aus höchster Höhe, draußen steht Etage 15, hinabgeworfen auf dieses Elbphilharmonieorchester, als schwebte man über ihm, und ich bemerke erst spät, dass ich auf dem Sitze weitgelehnt nach vorne strebe, um alles ganz zu sehen, die Streicher so schnell, dass die Bögen im Holz derart wirbeln, dass man kein Holz mehr sieht, und den Mann im Frack dort oben, der nur einen einzigen Schlag auf dem mannshohen Gong ausführt. Warum Dohnányi die drei Kontrabässe nach links versetzt, entgegen der Ordung eines Symphonieorchesters, mag der besseren Kontrolle, vielleicht des Maestros Augenlicht, aber auch der ja schon bejubelten Akustik zuschulden sein.

Mein Lieblingssatz, der 3. – schon als 14-Jähriger radelte ich mit ihm im Ohr durch die bayerischen Kornfelder, die gelbe „Deutsche Grammophon“ Musikkassette im vom Vater geschenkten, ersten Walkman, das Magnetband entliehen aus der Gemeindebücherei – Gott lobe das bayerische Bildungssystem.

Es ist eine Eisenbahnfahrt, die PIT da vorstellt, ein rasantes Gleiten, vielleicht von Petersburg nach Moskau, draußen, vor den Scheiben des Abteils, mag der Schnee sich niederschlagen, – schneller, immer  schneller geht die Fahrt!

Der zweite Satz, ein untanzbarer Walzer – auf einem Walzenklavier mit Lochkarten wird er in dem für mich ebenfalls sehr eindrücklichen und jugendbestimmendem Roman des E.M. Forster, „Maurice“ von den Cambridge Studenten Clive und eben Maurice, gleich dreimal gehört.

Meine Aufnahme des Leonard Bernstein von 1986 mit den New York Philharmonics ist unvollständig – der gewaltige, aber eben so unendlich verzweifelte 4. Satz fehlt – um so wunderbarer, ihn nun konzertant zu hören, zum zweiten Mal in meinem Leben. Beim ersten Mal dirigierte Sergiu Celibidache das Bayerische Staatsorchester im Konzertverein von Ingolstadt 1986, und wieder geschieht das so Unbedachte der Laien: Sie halten die bombastische Eisenbahnfahrt für das Ende der 6. Symphonie und applaudieren – eine Tortur für Dirigat und Musiker, die Celibidache damals mit ungeduldiger Handbewegung abbricht.

Heute Abend nun aber bricht sich in kurz aufperlendem Klatschen die schiere Mitgerissenheit durch den alten Meister am Pult und das meisterliche NDR Elbphilharmonie Orchester – auch mir entfährt nun ein halblautes Bravo.

Ein voll ausgefahrenes Symphonieorchester schlägt jede Rockband. Im ersten Satz der Pathétique wartet der Komponist mit einem Trompetenstoß und Pauken auf, ein rechter Knalleffekt, damit wohl der Zar wieder aufwacht, nach elegischem, wiederum klagenden, langsamen Thema. Und auf Knien danke ich den Konstrukteuren der Philharmonie, denn nun sitze ich in diesem, Tschaikovskys, nun, darf man es sagen, lebens-letzten Klimax, im Heft wird vom überaus passenden Ausdruck des „Opus Imperium“ geschrieben, ich fliege also gefühlt direkt über den ersten Geigen.

Dohnányi im Dirigat derer in der dramatischen Dimension eines DIN A 4 Blattes.

Noch einmal, der letzte Satz, Tschaikovskys Abschied. „Waaaaaas ist mir nun entfloooohen…“ So jedenfalls zu meinen Ohren. Man darf nicht vergessen, nur wenige Wochen, nachdem er sein Vermächtnis an die Welt dirigiert, ist Peter Iljitsch mausetot, was Sergej Rachmaninoff in eine tiefe Depression stürzt, aber das ist eine andere Geschichte.

Peter Ackroyd, sein Tschaikovskys epochaler Biograph, gibt zu dessen Tode die Theorie eines Ehren-Suizids an, die ihm aus verschiedenen Quellen zugetragen werden. Pjotrs Homosexualität gilt unter seinen Klassenkameraden als so schandbar, dass jenem der Freitod befohlen wird. Frau von Meck, die Gönnerin aus der Ferne, nur einmal fährt sie hunderte Meter weit in ihrer Kalesche im Birkenwald ihres Landgutes am so Verehrten schmachtend vorbei. Aber als ihr zu Ohren kommt, Tschaikovsky empfände für einen seiner jungen Cousins eben mehr, als schicklich, ist´s aus mit der Heldenverehrung.

Der andere Gedankengang: Das Genie erwirbt sich die Cholera, weil er amouröse Dinge tut, die man nicht tun sollte.

Der Offizielle: Er verlangt, zum Freitod entschlossen, ein Glas unabgekochtes Wasser, trotz aller Warnungen, obschon eine Epidemie waltet.

Man wird ihn zu Tode kochen, in siedendem Wasser, in einer Badewanne, in der Hoffnung, dass das Bakterium früher denaturiert, als des Patienten eigenes Blut.

Das kann der Komponist nun beim besten Willen nicht ahnen, aber Christoph von Dohnányi, er lässt eine Ahnung von all dem aufkommen, in Bewegungen, mit denen mancher von uns am Automaten eine Fahrkarte lösen würde.

Ein Abend ohne Gleichen.

Harald N. Stazol, 18. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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