Eine Drag-Queen steckt in jedem Charakter

Reynaldo Hahn, Ciboulette   Staatsoper Hamburg, Opera Stabile, 7. Juli 2024 

Yeonjoo Katharina Jang, Mateusz Ługowski, Aaron Godfrey-Mayes, Grzegorz Pelutis © Jörg Landsberg

Reynaldo Hahn, „Ciboulette“ 
Staatsoper Hamburg, Opera Stabile,
7. Juli 2024

Musikalische Leitung: Nicolas André
Inszenierung: Sascha-Alexander Todtner
Bühne und Kostüme: Christoph Fischer
Musikalisches Arrangement: Johannes Harneit
Dramaturgie: Angela Beuerle

von Jolanta Łada-Zielke

Die Stimmung ist typisch Französisch: leicht, frivol, witzig und mit einer Prise faire l’amour.  In erster Linie gibt es dort hervorragende Anhänger der Gesangkunst, die sich mit jugendlichem Elan auf der Bühne agieren. Ihre in Meisterkursen sowie im örtlichen Studio ausgebildeten Stimmen klingen ziemlich reif.

Das mehr als ein Jahrhundert alte „Ciboulette“ ist eine Satire auf Rückständigkeit und kleinbürgerliche Moral. Der Regisseur Sascha-Alexander Todtner hat sie noch weiter geschärft: In seiner Interpretation hat jede Figur ihr Alter Ego in Form einer Drag-Queen.    

Der Autor des Werkes, Reynaldo Hahn (1874-1947), französischer Komponist, Dirigent und Musikkritiker hatte deutsch-venezolanische Wurzeln. Als er drei Jahre alt war, ließen sich seine Eltern in Paris nieder. Dort zeigte sich schon als Kind Reynaldos außergewöhnliches musikalisches Talent. Im Alter von 11 Jahren begann er sein Studium am Pariser Konservatorium. Als reifer Komponist erlangte er schnell internationalen Ruhm. Sein Lebenspartner war Marcel Proust.

Die Uraufführung der „Ciboulette“ fand am 7. April 1923 im Théâtre des Variétés Paris statt. Das Werk ist im französischen Stil komponiert und enthält humorvolle Zitate von Debussy, Massenet, Saint-Saëns und Strauss. In der Hamburger Produktion gibt es zusätzlich einen Verweis auf den Queen-Song  „I Want to Break Free“.

Die Protagonistin, die junge und hübsche Ciboulette (deutsch: Schnittlauch), sehnt sich danach, vom Lande nach Paris zu ziehen und sich dort auf der Bühne zu versuchen. Es gelingt ihr nicht nur in das Bohème-Milieu einzugehen, sondern auch einen Ehemann zu finden, wie ihr eine exzentrische Madame Pingret vorhergesagt.

Aaron Godfrey-Mayes, Mateusz Ługowski, Yeonjoo Katharina Jang, Gabriele Rossmanith, Claire Gascoin, Marta Świderska © Jörg Landsberg

Todtner hat die Handlung der Operette in das New York der 1980er und 1990er Jahre verlegt, wo sich Vertreter der Subkultur in einem queeren Club treffen. Die Anwesenheit von DJ Phasolt, der Discomusik spielt, verstärken die nostalgische Stimmung. Auch die im Text verborgene Symbolik bezieht sich auf die Gegenwart:  Man singt über die Maiglöckchen und verteilt gleichzeitig Kondome.

Arien und Ensembles singt man auf Französisch und führt die Dialoge auf Deutsch mit englischen Einwürfen. Zwei der Sänger kommen aus Frankreich – Claire Gascoin und Florian Panzieri –, aber alle anderen kommen ebenso mit der französischen Aussprache gut klar.

Auf der Bühne gibt es nur zehn Adepten des Opernstudios. Daher sind nur die Hauptrollen einzeln, während die Nebenrollen doppelt oder sogar dreifach besetzt. Zwei ehemalige Teilnehmerinnen des Opernstudios, die hier als Gast auftreten, übernehmen die Partie des Chors: Marta Świderska und Gabriele Rossmanith. Die Mezzosopranistin Świderska hat die schwierigste Aufgabe, weil sie den Männerchor ersätzt und nur in der Mittel- und  Brustlage singen muss. Dies meistert sie jedoch mit Bravour und verzaubert das Publikum mit ihrer schönen, dunklen Stimmfarbe sowie einer sehr guten Diktion.

Zwei der Sänger spielen auf authentische Drag-Queens an. Ciboulette (Yeonjoo Katharina Jang) ändert ihr Image in Conchita Wurst, die Eurovisionssiegerin von 2014. Von einem jungen, unerfahrenen, aber etwas trotzigen Mädchen vom Lande verwandelt sie sich in eine mondäne Diva, was sie ebenfalls in ihrem Gesang zeigt.

Der Bassbariton Grzegorz Pelutis als Rodolpho Duparquet stellt eine Figur wie die legendäre Divine (1945-1988) dar. Er verfügt über eine kraftvolle, donnernde Stimme, die auf einen zukünftiger Wagner-Sänger verweist. In der „Ciboulette“ vermag er die Zuschauer mit einer äußerst lyrischen Darbietung der „Mochoir-Arie“ zu berühren. Ebenso hervorragend in seinen drei Rollen ist sein Landsmann Mateusz Ługowski, dessen Bass eine etwas hellere Farbe hat. Die amerikanische Sopranistin Olivia Boen (Zenobia und Augusta) kann man nicht nur um die hervorragende Stimme mit ihrem großen Volumen, sondern auch um die perfekte Figur beneiden.

Claire Gascoin, Liam James Karai, Olivia Boen © Jörg Landsberg

Die Sängerinnen und Sänger werden von einem aus einzelnen Instrumenten bestehenden Ensemble begleitet: Harfe, Violine, Viola, Cello, Kontrabass, Flöte, Fagott, Trompete und Posaune. Maestro Nicolas André dirigiert es mit französischer Finesse und bringt die richtigen Ausdrucksmittel zur Geltung: Humor, Lyrik mit leichter Dramatik, wo nötig.

Während der dritten Vorstellung am letzten Sonntag saßen viele ältere Menschen im Publikum, sie waren jedoch keineswegs angewidert. Im Gegenteil, sie reagierten begeistert und warmherzig auf die letzte Inszenierung des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Hamburg in dieser Saison.

Wenn man also in die leicht kitschige, aber charmante Atmosphäre der 80er und 90er Jahre eintauchen und sich ein wenig amüsieren möchte, gibt es noch bis zum 13. Juli einige Vorstellungen von „Ciboulette“.

Jolanta Łada-Zielke, 9. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Nachfolgende Aufführungen:

10. Juli 2024
12. Juli 2024 (20:00 Uhr)
13. Juli 2024 (19:00 Uhr), Opera Stabile

Platée, Ballet bouffon in einem Prolog und drei Akten von Jean- Philippe Rameau Opernhaus Zürich, 14. Januar 2024

Ebb/Fosse/Kander, Chicago, Ein Musical Vaudeville Komische Oper im Schillertheater, 17. November 2023

 

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