Pelléas et Mélisande bei den Münchner Opernfestspielen: Subtiler Symbolismus fesselt mit klangmagischem Debussy

Claude Debussy, Pelléas et Mélisande, Bayerisches Staatsorchester, Hannu Lintu, Dirigent  Prinzregententheater München, 14. Juli 2024

Pelléas et Mélisande, Bayerische Staatsoper © Wilfried Hoesl

Nach Le grand macabre schafft die Bayerischen Staatsoper auch mit Claude Debussys Pelléas et Mélisande eine sehr gelungene Neuproduktion bei den diesjährigen Münchner Opernfestspielen. Eine durchdachte und den Charme des Stückes nicht entstellende Inszenierung mitsamt überzeugender musikalischer Interpretation lassen im Münchner Prinzregententheater großartiges Musiktheater gelingen.

Claude Debussy
Pelléas et Mélisande

Hannu Lintu, Dirigent
Bayerisches Staatsorchester

Jetske Mijnssen, Regie
Ben Baur, Bühnenbild

Prinzregententheater München, 14. Juli 2024

von Willi Patzelt

Es ist mittlerweile ganze neun Jahre her, dass man in München das letzte Mal Claude Debussys einzige Oper Pelléas et Mélisande zu sehen bekam. Die Produktion wurde bei Publikum und Kritik zum Reinfall. Es muss wohl so schwer erträglich gewesen sein, dass ein ehemaliger bayerischer Staatsminister sogar in der Premierenpause lautstark kundtat, überhaupt nur wegen der Verköstigung beim anschließenden Empfang bis zum Ende bleiben zu wollen. Gut also, dass es in München nun eine Neuproduktion gibt!

Aus informierten Kreisen war zu hören, dass dieses Vorhaben wohl maßgeblich auf den Münchner Kammersänger Christian Gerhaher zurückgehen soll. Sang der in aller Welt gefeierte Bariton in der letzten Münchner Produktion noch die Partie des Pelléas, reizte ihn nun wohl gerade die Partie des Golaud – die eigentliche Hauptrolle der Oper.

Reizvollster Symbolismus

Denn diese Figur und ihre Entwicklung ist die maßgebliche Erzählung der Oper. Debussys Oper erzählt die Geschichte Golauds, des Enkels von König Arkel im Königreich Allemonde, der im Wald auf die geheimnisvolle Mélisande trifft und diese zur Frau nimmt. Mélisande muss Schreckliches passiert sein. Außer dass sie von irgendwo geflohen ist, erfährt man jedoch keine Einzelheiten. Als Mélisande freilich Golauds Halbbruder Pelléas kennenlernt, gilt ihr Interesse mehr diesem als ihrem Mann. Der wird misstrauisch und benutzt seinen Sohn Yniold, um die beiden auszuspionieren. Die Beziehung von Pelléas und Mélisande ist aber auch keine wirklich liebevolle, sondern eine rätselhafte. Trotzdem gestehen beide einander ihre Liebe, und im Zorn darüber erschlägt Golaud dann seinen Halbbruder. Mélisande, die inzwischen ein Kind zur Welt gebracht hat, erliegt kurz darauf ihrem Kummer.

Pelléas et Mélisande, Bayerische Staatsoper © Wilfried Hoesl

Die Wahrheit über manches nie so ganz genau kennen zu können, macht das Stück dem Zuschauer reizvoll. Vieles bleibt zwischen Andeutung und Geheimnis absichtsvoll in der Schwebe. Gerade das reizte auch Claude Debussy, als ihm das gleichnamige Schauspiel des Belgiers Maurice Maeterlinck vor Augen kam. Jedenfalls wurde dieses zutiefst vom Symbolismus geprägte Werk des späteren Literatur-Nobelpreisträgers zur Vorlage für Debussys einzige Oper.

Hannu Lintu lässt Debussy in klangfarbig-subtiler Zeitlosigkeit geschehen

War der Symbolismus schon recht bald wieder aus der Mode gekommen, blieb Debussys Musik zeitlos. Der Großmeister des Impressionismus schuf mit dem breitgefächerten Instrumentarium der Spätromantik eine unglaublich farbenreiche und subtile Klangwelt. Nicht Lautstärke, sondern Klangfarben und feine Nuancierungen prägen das Werk. Seine schwebende Zartheit bringt jene träumerische und geheimnisvolle Atmosphäre hervor, in die sich jene durchaus mysteriöse Handlung von der seltsamen Liebe zwischen Pelléas und Mélisande wunderbar einfügt.

Diese Klangfarbigkeit und Subtilität geschehen zu lassen, gelingt dem Bayerischen Staatsorchester auf das Allerbeste. Unter der Leitung von Hannu Lintu – Chef an der Finnischen Nationaloper in Helsinki – kommt Debussys Klangmagie zur vollen Entfaltung. Sein deutlich hörbarer Ansatz, nicht interpretatorisch zu viel zu wollen, sondern den Klang wachsen und organisch sich ereignen zu lassen, trägt der Idee impressionistischer Musik gelungen Rechnung.

Pelléas et Mélisande, Bayerische Staatsoper © Wilfried Hoesl

Sängerbesetzung vom Allerfeinsten

Paradox wirkt auf nicht wenige, dass Debussy der Meinung war, in der Oper werde zu viel gesungen werden – und dann selbst solches Musiktheater schrieb. Hört man  Pelléas und Mélisande, dann wird allerdings rasch klar, was Debussy meinte: Der Gesang soll der sprachlichen Diktion abgelauscht, doch kein Selbstzweck sein. Also sucht man „große Nummern“ in Form von Arien oder Duetten vergebens. Diese Art des Singens braucht nun freilich auch hervorragende Sänger – und bei den Opernfestspielen bekam man sie.

Pelléas et Mélisande, Bayerische Staatsoper © Wilfried Hoesl

Mit Golaud hat Christian Gerhaher eine Partie für sich gefunden, die ihm wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Jeden Ton, ja jede Silbe detailreich bedenkend, zeigt Gerhaher mit seinem wuchtigen-dunklen Bariton die komplexen Emotionen und die innere Zerrissenheit des Golaud hochgradig eindrücklich und in tief-emotionaler Weise. Der hell-lyrische Tenor des US-Amerikaners Ben Bliss erweist dann passenderweise den Pelléas auch stimmlich als Gegenpart zum Halbbruder – und vermag dabei musikalisch ebenso sehr zu überzeugen.

Ebenso glänzt Sabine Devieilhe als Mélisande mit ihrem zarten, dennoch großen und unglaublich klangschönen Sopran. Beide – Pelléas und Mélisande – passen stimmlich auf das beste zusammen! Auch die kleineren Rollen des Arkel und der Geneviève sind mit Franz-Josef Selig und Sophie Koch trefflich besetzt. Die Rolle des Yniold, die wohl größte Kinderrolle des Opernrepertoires, ist mit einem Mitglied aus dem Tölzer Knabenchor besetzt. Zuweilen fühlt man sich bei ihm an den jungen Alois Mühlbacher erinnert, der vor einigen Jahren als Knabe Maßstäbe nicht nur in dieser Rolle setze. In der verstörenden Schlussszene des dritten Akts – Golaud lässt seine ganze Verzweiflung an seinem verängstigten Sohn Yniold aus – vermag dieser stimmlich und spielerisch mit Gerhaher mitzuhalten. Für einen vielleicht 12- oder 13-jährigen eine fulminante Leistung!

Das Geheimnis der Mélisande bewahren, ihre Aktualität betonen

Es sind Szenen wie diese, die zeigen, dass gerade dem Symbolismus textpositivistische Deutungen nicht guttun. Schließlich entziehen sich solche nicht selten modernen Verständnishorizonten, und das bei gleichbleibender Aktualität. Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen tut insofern sehr gut daran, Symbolistisches und Symbolisches nicht auszuklammern, doch gewissermaßen einzuengen und zu transferieren. Sie lässt insofern das Geheimnis der Mélisande unangetastet und konzentriert sich auf die zerrütten Verhältnisse der Familie. Diese versetzt sie in das frühe 20. Jahrhundert, also in die Entstehungszeit der Oper.

Pelléas et Mélisande, Bayerische Staatsoper © Wilfried Hoesl

Der Symbolismus bleibt so erhalten, wird allerdings nachvollziehbarer. So lernen sich Golaud und Mélisande am Anfang der Oper nicht im Wald, sondern auf einem Ball kennen. Beiden ist die bürgerliche Gesellschaft fern, beide sind ihr irgendwo innerlich abhanden gekommen. Das ganze sich anschließende Drama wird in angedeuteten Wohnräumen der Familie verhandelt. Kluge Personenregie lässt hierbei die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt gelungen verschwimmen, und belässt dabei vieles im Vagen – und das ist gut so!

Was sicher sein kann, ist das Resümee von Arkel: „C’était un pauvre petit être mystérieux – comme tout le monde…“. Zu deutsch: Sie war ein armes, kleines, geheimnisvolles Wesen – wie (wir) alle anderen auch…“. Mijnssen scheint diese Aussage so wichtig gewesen zu sein, dass sie im letzten Akt auf dem bis dato schwarzen Hintergrund in großen Buchstaben zu lesen ist. Und auch das überzeugt. Denn Mélisande ist eine fortwährend aktuelle Figur. Möge es uns freilich am Ende besser ergehen…

Willi Patzelt, 16. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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