Concertgebouworkest, Lisa Batiashvili © Alte Oper Frankfurt, Tibor-Florestan Pluto
Diese Sternstunde wird lange in Erinnerung bleiben.
Ganz ohne Karneval bilden das Amsterdamer Concertgebouworkest und Lisa Batiashvili mit dem estnischen Meisterdirigenten im Frankfurter Rosenmontagskonzert ein perfektes Dreigestirn.
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Violinkonzert D-Dur, op. 61
Sergei Prokofjew (1891-1953) – Sinfonie Nr. 5 B-Dur, op. 100
Concertgebouworkest
Lisa Batiashvili, Violine
Paavo Järvi, Dirigent
Alte Oper, Frankfurt, 20. Februar 2023
von Brian Cooper, Bonn
„Sachma, bist Du jeck, am Rosenmontag Deine Wohnung zu verlassen?“, fragen mich Freunde, die meine Karnevalsträgheit kennen. „Sonst verschanzt Du Dich doch immer!“ Stimmt, aber ich habe einen wichtigen Termin und muss ja nur zum Bahnhof. Unterwegs sehe ich wenig bis gar keine originellen Verkleidungen, gepflegte Deiters-Langeweile halt, und bin froh, gleich nicht im Regionalzug zu sitzen. Die Straßenbahn war schlimm genug.
Früher habe ich sogar an Karneval – sagen Sie im Rheinland bloß nicht „Fasching“, sonst wird Ihnen das Kölsch verweigert – das Land komplett für ein paar Tage verlassen, aber… Flugscham und so. Meine Eltern, seinerzeit flugschamresistent, besuchten mich mal in Bilbao, um dem rheinischen Karneval zu entfliehen, und prompt begegnete uns in einer Kneipe der Papst mitsamt Schweizer Garde, hinterher hielten sie noch den Verkehr an (die Verkleideten, nicht meine Eltern), sehr amüsant das Ganze, Stichwort originelle Verkleidung – gekoppelt mit vorbildlichem method acting.
Es spielten in Frankfurt, also ganz in der Nähe, die zwar nicht päpstlichen, wohl aber königlichen Amsterdamer, was für mich immer ein Pflichttermin und mit dem ICE ein Katzensprung ist. Einbrechern müsste man eigentlich nur den Spielplan des Koninklijk Concertgebouworkest schicken; dann wüssten sie, wann ich nicht zuhause bin.
Nur etwa 170 Kilometer weiter sagt man „Fastnacht“. Es wird nicht nur „fast Nacht“ sein, bis ich wieder zuhause bin, sondern tiefe Nacht, denn der letzte Zug mit Abfahrt noch am Konzerttag wird ausnahmsweise nicht über die Schnelltrasse, sondern über die wunderschöne Rheinstrecke geleitet, von der man allerdings im Dunkeln wenig sieht, Ankunft gegen halb zwei in Bonn.
Aber jeder Kilometer war es wert! Paavo Järvi, Sohn des großen Neeme und inzwischen 60, dirigierte ein attraktives Programm mit Beethovens Violinkonzert und Prokofjews 5. Sinfonie. Beides in jüngerer Zeit öfter gehört, zuletzt das Violinkonzert mit Patricia Kopatchinskaja in Köln – wenig Beethoven, viel PatKop – und die Sinfonie 2019 mit Yannick Nézet-Séguin in Hamburg und Paris. Und im Februar 2012 gab es gar das identische Programm mit Frank Peter Zimmermann, Alan Gilbert und dem New York Philharmonic in Köln. Es wird einen Grund haben, warum ich mich daran erinnere.
Die Järvis, Vater und Sohn, sind alte Bekannte. Vor vielen Jahren habe ich mal Neeme Järvi in Berlin mit der Sinfonie von Hans Rott erlebt (Kollege Janz schrieb neulich über das Werk), sowie Paavos „grand finale“ als Chef des wunderbaren Orchestre de Paris mit einer bemerkenswerten Dritten von Mahler in Paris. Und Paavo Järvis Einspielung aller Beethoven-Sinfonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen wurde natürlich zu Recht gefeiert und wies ihn endgültig als Meister der Beethoven-Exegese aus.
Ähnlich großartig klang nun unter seinen Händen vom ersten Beethoven-Takt an das Concertgebouworkest, das Lisa Batiashvili als Solistin gewonnen hatte, deren Spiel ich seit ihrer Debüt-CD bei EMI bewundere (damals nannte sie sich noch Elisabeth). Diese Kombination erwies sich erwartungsgemäß als perfekte Symbiose, ganz im Dienste der Musik.
Batiashvili spielte die Schnittke-Kadenzen, die einige Menschen im Publikum hörbar überforderten. Einfach mal zuhören, dachte ich, statt zu quatschen und alles gleich zu kommentieren, lieber die Anklänge an – und Zitate von – Schostakowitsch und aus den Violinkonzerten von Brahms und Mendelssohn (?) erraten, genießen, und bitte doch der absolut seriösen Weltklasse-Geigerin die Freiheit lassen, diese raffinierten und überdies hinreißend dargebotenen Kadenzen des russisch-deutschen Komponisten (1934-1998) zu wählen.
Was die Amsterdamer mal wieder auf die Bühne zauberten, war vielseitig, sensibel und grandios musiziert. Die Solistin spielte makellos und innig ihren Part, zwischen ihr und dem Orchester war außergewöhnliches Musizieren zu erleben, ein Aufeinander-Hören, wie ich es in dieser Form in diesem Werk noch nie erlebt habe. Ja, man neigt dazu, das zuletzt Erlebte höher zu hängen, aber ich werde auch in ferner Zukunft bei diesen Worten bleiben.
Das Publikum im Saal hustet zwar bisweilen munter dazwischen, ist aber dann doch bemerkenswert still, wenn die Solistin sich in höchste Lagen emporschwingt, man lauscht der atemberaubenden Klangschönheit ihrer Violine, es ist Schönklang pur, eine Reinheit, eine Perfektion, wie sie auch in richtig guten Konzerten nicht immer gelingt. Dieser Abend war ein außergewöhnlicher. Als Zugabe spielte die Geigerin Bachs berühmte Air aus der 3. Suite BWV 1068, begleitet von einem Quartett aus Violine, Viola, Cello und Kontrabass.
Nach der Pause erklang eines der verständlicherweise populärsten Werke von Prokofjew. Seine 5. Sinfonie ist üppig besetzt und bietet eine reizvolle Mischung aus herrlichsten Melodien einerseits und stahlharter Fabrikmaschinerie andererseits. Das Concertgebouworkest spielte um sein Leben, folgte bedingungslos Järvis eleganten Bewegungen, und das war alles so formidabel gespielt, dass man geradezu nachsichtig sein möchte, was den Zwischenapplaus nach dem ersten und zweiten Satz betrifft. (Auch beim Beethoven gab es diesen nach dem ersten Satz.)
Eine typische Järvi-Zugabe, Jean Sibelius’ Valse triste, verklang hingegen in sekundenlanger wunderbarer Stille. An dieser Stelle sei auf einen beeindruckenden Mitschnitt Järvis der 2. Sinfonie von Sibelius mit dem Orchestre de Paris hingewiesen, leicht zu finden auf YouTube.
Der Frankfurter Abend war nach drei Wochen persönlicher Konzertpause und viel Beschäftigung mit der kleinen Form zuhause – Lied, Streichquartett – ein Labsal für die Seele. Oder, wie weiland Heinz-Harald Frentzen nach seinem ersten Formel-Eins-Sieg in Imola in die Mikros sprach: „It was oil on my soul.“
Zu guter Letzt noch ein Loblied auf die Deutsche Bahn. „Sie können bei mir mitfahren“, sagt die freundliche Frau Günther, Zugchefin des um gleich 70 Minuten verspäteten, früheren, zehn-nach-zehn-Zuges, der gewohnt schnell um kurz nach Mitternacht in Siegburg ankam. Fast Nacht war’s, doch noch nicht ganz Nacht.
Diese Sternstunde wird lange in Erinnerung bleiben. Die beiden zur Aufführung gekommenen Werke kann man allenfalls anders spielen, aber beileibe nicht besser. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, so etwas erlebt haben zu dürfen. Hoffentlich kann am Folgetag das Pariser Publikum – zumindest jene Menschen, die für die Musik in der Philharmonie sind – ungestört dem Wunder lauschen. (https://klassik-begeistert.de/warum-ich-nie-wieder-die-philharmonie-de-paris-betreten-werde-klassik-begeistert-de-10-januar-2023/)
Dr. Brian Cooper, 21. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at