Daniels vergessene Klassiker 36: Der verkannte Autodidakt Joachim Raffs hinterließ mit seiner zehnten Sinfonie ein Zeugnis voller Genialität

Daniels vergessene Klassiker 36: Der verkannte Autodidakt Joachim Raff  klassik-begeistert.de, 8. April 2024

Foto: https://joachim-raff.ch/joachim-raff/

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Seit jeher waren die Zeiten für Komponisten und jene, die es werden wollten, nicht einfach. Während große Namen wie Mendelssohn Bartholdy und Liszt um die 1850er Jahre das Kulturschaffen prägten, standen andere im Schatten derselben. So erging es auch Joseph Joachim Raff (1822 – 1882). Lange Zeit blieb dieser Autodidakt, dessen Vater ihm nicht einmal eine weiterführende Schule bezahlen konnte, vergessen und ignoriert. Erst im Alter von 39 Jahren erfuhr er seinen ersten Durchbruch. Dabei zeugen seine Werke von einer Reife und Raffinesse, die Zeitgenossen überzeugte, ihn in einem Atemzug mit Wagner und Brahms zu nennen.

Es ist schon ein Rätsel, wieso einem der Name Joachim Raff heutzutage nicht häufiger begegnet. Der 1822 in Lachen, Schweiz, geborene Sohn eines Musiklehrers dürfte wohl eines jener Beispiele dafür sein, wie man sich aus armen Verhältnissen durch Beharrlichkeit und Disziplin hocharbeiten kann. So wurde Raff nicht nur früh zum Virtuosen an Geige, Orgel und Klavier. Sein Ehrgeiz und Mut verhalfen ihm auch zu einflussreichen Führsprechern, wie Franz Liszt, Mendelssohn Bartholdy und Hans von Bülow.

Trotzdem aber gelang sein Durchbruch erst im Jahr 1861 mit seiner ersten Sinfonie. Das von Pathos strotzende Werk mit Titel „An das Vaterland“ ließ bereits seine Fähigkeiten erahnen. Spätestens mit seiner dritten Sinfonie „Im Walde“ erfuhr er dann 1869 auch den verdienten Ruhm. Diese Sinfonie deutet auch seine Entwicklung hin zu Naturliebe und romantischer Weltverbundenheit an, die spätestens ab seiner siebten Sinfonie „In den Alpen“ (1875) sein Schaffen bestimmen und mit seiner zehnten Sinfonie „Zur Herbstzeit“ (1879) einen feierlichen Höhepunkt erreichen sollte.

Raffs Zehnte ist – obwohl sie in der Zählung vor seiner elften Sinfonie kommt, allerdings erst 3 Jahre nach der Elften uraufgeführt wurde – eine sehr ausgereifte Sinfonie. Wie auch Mahler später, legte Raff seinem Werk ein Programm zugrunde, das sich in den Satztiteln wiederfindet. So wird der erste Satz „Eindrücke und Empfindungen“ nicht etwa durch schwere Klänge oder triste Einöde charakterisiert. Sondern auf den ersten Einsatz folgen sich auftürmende Streicher und feierliche Bläserstöße wie ein Meer aus goldbraunem Laub. Dies alles lenkt ein getrillertes Hauptmotiv, das mal im vollen Orchester, mal in solistischen Stimmen auftaucht und dabei eine Mischung aus Wohlwollen, Tiefsinn und Sehnsucht verströmt.

In einem reizvollen Kontrast dazu steht der zweite Satz. Der „Gespenster-Reigen“ verströmt mit dem dumpfen Paukenrhythmus zu tiefen Streichern und den Tanzfiguren im Holz Gänsehaut vom ersten Ton an. Ein wenig brav wird es zwar mit dem Einsatz von Geigen und Flöte. Dennoch bleibt das geisterhafte Element immer erhalten. Raff zeichnet hier eine Szene voller Naturgeister und Feenwesen, die weniger bedrohlich als erhaben ihren Tanz ausführen. Toll, wie dieses unterschwellige Gefühl des Unheimlichen selbst in den vollen Akkorden zur Mitte des Satzes erhalten bleibt. Das ist Zeugnis eines ganz großen Komponisten.

Joachim Raff https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Raff

Dass diesem Treiben mit der „Elegie“ im dritten Satz ein sehr feierlicher Streicherchoral mit abwechselnden Einsätzen von Oboe und Klarinette folgt, wirkt konsequent. Auch hier ist der Kontrast zu dem vorangegangenen Satz wieder intensiv herausgearbeitet, was zu einer besonderen Wirksamkeit dieser rührenden, weniger spannungsreichen Musik führt. Dass Raff hier lange Zeit auf die Blechbläser verzichtet, legt außerdem einen besonderen Fokus auf die Holzbläser und Streicher, die hier in sich gekehrt einen Gedanken nach dem anderen vortragen. Das ist Musik zum Hinsetzen und Schwelgen.

Munter geht es dann im abschließenden Finalsatz „Die Jagd der Menschen“ zu. Bereits das Allegro-Tempo setzt Schwung voraus und das Hornsignal zu Beginn des Satzes, das Raff wie eine Art Leitmotiv verwendet, entführt in eine Welt voller Heldenmut und Abenteuer. Selbst heute, über 160 Jahre nach der Uraufführung, ist das als symbolischer Ruf aus der Natur noch äußerst wirkungsvoll. Und spätestens, als dann Trompeten und Pauken zu den trabenden Streichern losdröhnen, gibt es kein Halten mehr. Was Raff hier formt ist ein aufregendes Finale mit richtig Feuer im Klang. Dies krönt eine alles in allem herrlich abwechslungsreiche Sinfonie, die viel öfter in unsere Konzertsäle gehören würde.

Wie dieses Werk zeigt, könnte die Geschichte von Joachim Raff heute eines dieser inspirierenden Beispiele sein, warum Mühe sich stets lohnt. Stattdessen hat sich unser Kulturbetrieb aber dazu entschieden, eine religionsartige Elitengeschichte zu erzählen, in die bis heute nur eine Handvoll ausgewählter „Göttergenies“ mitaufgenommen werden.

Diese starre Art der kulturellen „Pflege“ verfestigt nicht nur die Klischees einer „toten“ Musikgattung. Sie ist auch geradezu widerlich all denjenigen gegenüber, die sich ihr Leben lang abmühen und dafür nicht einmal einen Hauch Anerkennung ernten. Kein Wunder, dass Klassische Musik in einer Generation, die von Krise zu Krise schlittert und sich fragt, wie sie ihr eigenes Leben finanzieren, geschweige denn eine Zukunft oder Familie aufbauen soll, immer mehr an Relevanz verliert.

Wir brauchen heute keine Genieverherrlichungen über Mozart, Wagner und Co, denen scheinbar alles in den Schoß gefallen ist. Und auch keine Geschichten von reichen, elitären Gestalten, die Halbgöttern gleich über allem schweben und die Kultur in ihrem „Fortschrittsdenken“ prägen.

Wir brauchen Beispiele von Menschen, die ebenfalls kämpfen, scheitern und durch Krisen gehen mussten, um am Ende zu bestehen. Beispiele, die zeigen, dass Mühe sich lohnt und Erfolg nicht vom Ruf oder Geld abhängt! Beispiele, wie das von Joachim Raff.

Warum also erzählen wir nicht häufiger von diesen? Meiner Meinung nach sollten wir uns seine zehnte Sinfonie (und andere seiner Werke) so ein gutes Beispiel sein lassen…

Daniel Janz, 8. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!

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Daniels vergessene Klassiker Nr 32: Unter allen romantischen Musikportraits darf Aaron Coplands „Appalachian Spring“ nicht fehlen klassik-begeistert.de, 4. Februar 2024

2 Gedanken zu „Daniels vergessene Klassiker 36: Der verkannte Autodidakt Joachim Raff
klassik-begeistert.de, 8. April 2024“

  1. Ich habe kürzlich aufgrund eines Hinweises Raffs Symphonie „In den Alpen“ angehört und fand sie sehr schön und interessant. Das wäre doch einmal ein Alternative zu dem bekannten Schlachtross von Richard Strauss!

    Danke auf jeden Fall für diese interessante Biografie!

    Lorenz Kerscher

    1. Ja, ich kann dem nur zustimmen. Die Musik von Joachim Raff war für mich wirklich eine Entdeckung und mir ist es schwer gefallen, mich da nur auf eine seiner Sinfonien zu reduzieren. Für mich unerklärlich, warum er nicht mindestens so oft gespielt wird, wie Brahms und Schumann. Er ist mindestens genauso reizvoll!

      An Straussens Alpensinfonie – meine Lieblingskomposition schlechthin – kommt für mich allerdings nichts ran 😉

      Daniel Janz

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