Foto: www.schott-music.com/de/blog/augusta-holmes-roland-furieux/
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die Geschichte von Frauen, die im klassischen Konzertbetrieb unterdrückt werden, scheint bis heute kein Ende zu nehmen. Schon im letzten Beitrag widmete sich diese Kolumne einer Frau, die aufgrund ihres Geschlechts nur unter Pseudonym veröffentlichen konnte. Genauso ging es auch der Person hinter dem Scheinnamen „Herman Zentra“. Denn auch hinter diesem Namen versteckt sich die Biografie einer französischen Komponistin, deren Leben von Diskriminierung und Sexismus geprägt wurde. Lesen Sie also heute, warum Augusta Holmès in unsere Konzertsäle zurück gehört.
Es ist ein Trauerspiel mit dem Andenken an die 1847 in Paris geborene Augusta Mary Anne Holmès. Bereits in frühen Jahren wurde offenbar, dass die Nachkommin einer irischen Familie eine besondere musikalische Begabung hatte. Der Weg wäre also eigentlich klar gewesen: Aufnahme am renommierten Conservatoire de Paris, Ausbildung mit Abschluss und Auszeichnung, Aufnahme ins Netzwerk der komponierenden Zeitgenossen und eine Karriere, von der man bis heute sprechen sollte. So wäre jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Biografie als Mann verlaufen.
Leider aber teilte Augusta Holmès ein vergleichbares Schicksal, wie auch viele andere in dieser Kolumne behandelten Frauen. Denn anstatt eines verdienten Studiums und den damit verbundenen Berufschancen, hatte das Pariser Konservatorium nur Ablehnung für sie übrig. Grund: Ihre Weiblichkeit. In der Folge blieb ihr einzig der Privatunterricht, was ihre Entwicklung nachträglich behinderte. Kein Wunder, dass sie ihre Kompositionen zunächst nur unter Pseudonym veröffentlichte. So kam es auch, dass sie erst im Alter von 29 Jahren ihr Talent entfalten konnte, als sie auf ihren eigentlichen Meister César Franck stieß. Ein Umstand, der sie so nachhaltig geprägt haben dürfte, wie der deutsch-französische Krieg, denn nach 1870 distanzierte sie sich radikal von „deutscher Musik“.
In der Auseinandersetzung mit ihrem Nachlass fällt auf, was für eine törichte Verschwendung dieser Umgang mit ihr doch war und ist. Denn trotz ihrer Lebensumstände wurde sie erfolgreich und erhielt etliche Engagements. Auch hinterließ sie große Werke, darunter neben Liedern, Kammer- und Vokalmusiken mindestens 4 Opern und mehrere Werke für Orchester. Für Forschende tut sich hier ein wahrer Schatz auf, denn unter ihren Werken finden sich auch jene, die zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht geblieben und damit bis heute ungespielt sind. Und das, obwohl sie mit ihrer Oper „La Montagne noire“ und ihrer gigantomanischen „Ode triomphale“ sogar internationale Bekanntschaft erringen konnte.
Dennoch hat die europäische Musikgeschichte es fertig gebracht, ihr Andenken im 20. Jahrhundert auszuradieren. Dabei sollten die wenigen Werke von ihr, die es heute noch ab und an in den Konzertbetrieb schaffen, das Ausmaß dieser Ignoranz eigentlich genug offenbaren. Ihre sinfonische Dichtung „Andromède“ ist ein solches Beispiel, das heraussticht. Doch ist die Forschung zu Augusta Holmès dermaßen eingeschränkt, dass nicht einmal ein klares Kompositionsdatum zu ermitteln ist; einige Quellen geben das Jahr 1883 an. Andere jedoch berufen sich auf die Uraufführung im Jahr 1901 – dies ist die Version, der ich als Autor dieser Kolumne nun auch folge. Denn tatsächlich war dies die letzte von ihr veröffentlichte Tondichtung.
Und diese Reife einer Spätkomposition ist dem Werk in seinem durchweg roten Faden auch anzuhören. Das mag sicher auch an der Grundlage liegen: Nach griechischer Mythologie war Andromeda die Tochter des äthiopischen Königs Kepheus, der sie zur Sühne einem Seeungeheuer als Menschenopfer darbot, wovor Perseus sie gerettet und dann geheiratet haben soll.
Der Höreindruck legt nahe, dass es sich bei diesem Werk um eine Vertonung jener Ereignisse handelt. Dass Holmès tatsächlich auf diese Sage im Sinne eines Programms zurückgriff, lässt sich in Ermangelung von Quellen allerdings nur vermuten. Beim Hören könnte die Hornfanfare zum Einstieg durchaus einen royalen Eindruck abbilden.
Ob als Chiffre für König Kepheus oder für die Hybris von seiner Frau, die es zu sühnen gilt – später wird diesem Motiv keine Bedeutung mehr zugemessen. Stattdessen treten die Streicher in einen aufwühlenden Kontrast und gehen in einen lebhaften Fluss über. Das klingt eigentlich schon zu fröhlich für so eine dramatische Saga, könnte aber auch als Motiv für Andromeda selbst zu deuten sein.
Ein Wechsel zwischen vollen Akkorden und aufbrausenden Figuren, wie das Wellenschlagen des Ozeans, leiten in eine bedrohliche Figur im Bass über. Ob dies das Seeungeheuer sein soll, dem Andromeda geopfert werden soll? Die mit vollem Blech endende Szene geht jedenfalls in eine einsame Stille mit nur als Solomelodie spielenden Streichern über. Sehnsuchtsvolles Schmachten drängt sich durch die nach und nach zu Akkorden aufteilenden Streicher hindurch, zu dem die Holzbläser schließlich kammermusikalisch mit Harfe, Flöte und später Horn tröstend einsetzen.
Doch anstatt auf ein Ende zuzusteuern, überrascht Holmès durch hoffnungsvolle Hornsignale in Abwechslung zu Trompetenfanfaren, die sich als das eigentliche Hauptthema der Komposition herausstellen. Sollte es sich hier um die Vertonung des Andromeda-Mythos handeln, so dürfte dieses Signal sicher der auftretende Perseus sein, der zur Rettung eilt.
Die nun neu einsetzende Steigerung mit locker beschwingtem Unterton auf jenem neuen Leitmotiv verstärkt diese Vermutung. Beeindruckend auch, wie diese vollständig intuitive Szene in einem hochromantisch vollem Höhepunkt mündet. Das ist Schwelgen im Klangfluss des Orchesters! Selten hat eine (vermutete) musikalische Rettung so befriedigend geklungen. Und Befriedung ist es auch, mit der dieses Werk ausklingt. Die letzten Takte spickt Augusta Holmès noch einmal mit kammermusikalischem Zwischenspiel einzelner Holzbläser, und dann einer breiten Viola-Melodie mit aufzwitschernden Flöten, bevor sie mit Reminiszenzen an das (Perseus-?)Hauptthema in immer höher steigende Verklärungslaute ausklingen lässt.
Ob dies nun als Vertonung der Andromeda-Sage oder als freie Ouvertüre zu hören ist – dieses viertelstündige Werk spielt für mich in derselben Liga, wie Beethovens Coriolan- oder die ebenfalls völlig unterrepräsentierte Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen. Augusta Holmès beweist in diesem Werk Geschick für eine dramaturgische Erzählung, spitzfindigen Einsatz von Klangfarben, reizvolle Kontraste und eine absolut ergreifende Themenverarbeitung.
Meiner Meinung nach ist dieses herausragende Werk völlig zu Unrecht unterrepräsentiert und gehört – genauso wie viele andere vernachlässigte Werke – zurück auf unsere Spielpläne. Geben wir Augusta Holmès also doch mal eine Chance. Es lohnt sich.
Daniel Janz, 18. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels vergessene Klassiker Nr 20: Amy Beach – Sinfonie in e-Moll – „Gaelische Sinfonie“